Wer von Armut im Bundesland Salzburg unter gegenwärtigen Verhältnissen spricht, bringt eine paradoxe Situation zur Sprache. Salzburg ist ein reiches Land in einem reichen Staat: Die Wertschöpfung der Salzburger Wirtschaft liegt 9,5 % über dem österreichischen und sogar 12 % über dem europäischen Durchschnitt. Ist es in diesem Kontext sinnvoll, angesichts einzelner „Armutsbiografien“ von einer Armutssituation und von Armut erzeugenden Strukturen zu sprechen?
Armut im Wohlstand ist nicht zuletzt eine Frage von Definitionen. Hinter einer Vielzahl von Armutsdefinitionen, die in den Sozialwissenschaften entwickelt wurden, stehen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen und Beschreibungen, aber auch Beurteilungen von Armutslagen. Um angemessene Elemente einer Definition von Armut zu finden, ist es nötig, den Bezugsrahmen zu bestimmen, innerhalb dessen Armut zu definieren ist. Immer noch wird unsere Alltagswahrnehmung von einer ressourcenorientierten Sichtweise von Armut geprägt: Armut hat in einem solchen Verständnis absolut zu sein. Sie wird durch das Fehlen grundlegender Lebensressourcen (wie Nahrung, Kleidung und Wohnen) sowie primärer Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, das Beherrschen der Hochsprache) definiert. Eine solche Form der Armut ist idealerweise permanent und lebenslänglich. In Gesprächen trifft man häufig auf diese Sichtweise, die sich in etwa folgendermaßen artikuliert: „Bei uns braucht niemand zu verhungern. Jeder, der arbeiten will, bekommt Arbeit.“ Da solche Formen absoluter Armut in Österreich nur noch marginal und als Ausnahmesituation vorkommen, produziert jene Wahrnehmungsform das Urteil: „In Salzburg gibt es keine Armen!“
Während jedoch im Blick auf Gesellschaften der so genannten „Dritten und Vierten Welt“, also im Kontext von „global disparities“, diese ressourcenorientierte Wahrnehmungsform durchaus ihre Berechtigung hat, wurden von der Armutsforschung für den Bezugsrahmen von „intranational disparities“ sowie für regionale Kontexte Armutsdefinitionen entwickelt, die an Lebenslagen orientiert sind und auch relative sowie sekundäre Armutssituationen mit einbeziehen. Neben Besitz- und Einkommensfaktoren werden auch immaterielle Aspekte (z.B. soziale, ethnische, religiöse oder kulturelle Diskriminierung) sowie die politischen Ursachen in den Blick genommen.[998] Weiters berücksichtigen sie die sozialräumliche und zeitliche Dimension von Armut im Wohlstand. Damit kommt zum Beispiel die Häufung von Armutsrisiken im ländlichen Raum oder in bestimmten Lebensphasen (wie im Alter oder in der Adoleszenz) zur Sprache. Der für Salzburg wichtigste, an Lebenslagen orientierte Armutsbegriff liegt der EU-weit verwendeten Definition im Rahmen der „National-Anti-Poverty“-Berichte (NAP) zugrunde. Diese Berichte müssen von allen Mitgliedsstaaten der EU in regelmäßigen Abständen erstellt werden. Die Definition lehnt sich an die inhaltlichen Vorgaben des Europäischen Haushaltspanels (ECHP) an und ermöglicht eine einkommensorientierte, europaweit vergleichbare Messung von Armut: „Armutsgefährdung“ („at-risk-of-poverty“) liegt vor, wenn das Einkommen eines Haushalts die Schwelle von 60 % des Medianeinkommens unterschreitet. Diese von der EU definierte Armutsschwelle lag in Österreich im Jahr 1997 zum Beispiel in einem Vier-Personen-Haushalt (2 Erwachsene, 2 Kinder) bei 21.000.– ATS (rund € 1.526,--) monatlich. „Akute Armut“ tritt dann auf, wenn zusätzlich zu dieser Gefährdung mindestens eine der folgenden Einschränkungen hinzukommt:
eine Substandardwohnung,
Zahlungsrückstände,
Probleme beim Beheizen der Wohnung,
Probleme, sich nötige Kleidung kaufen zu können,
Probleme, einmal im Monat jemanden zum Essen einzuladen.
Hier werden also fehlende Ressourcen als Indikatoren für akute Armut in bestimmten Lebenslagen herangezogen.[999]
Auf der Grundlage dieser EU-weiten Definition lässt sich die Anzahl jener Personen errechnen, die in Salzburg unter der Schwelle der „Armutsgefährdung“ leben und somit von der Wohlstandsgesellschaft abgekoppelt sind. Der Armutsbericht des „Salzburger Netzwerkes gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ hat die aus dieser Definition ableitbaren Daten aufbereitet und in eine qualitative Beschreibung der Armutssituation in Salzburg aufgenommen.
„Im Bundesland Salzburg leben aktuell ca. 55.000 Personen, das sind 11 % aller SalzburgerInnen, die im Monat (gewichtet nach Familiengröße, nach der Anzahl von Kindern und Mitversorgten) weniger als 10.000.-- ATS [rund € 730,--] zur Verfügung haben. Ihr Einkommen liegt damit unter bzw. an der offiziell anerkannten Armutsschwelle. Bei etwa 21.000 SalzburgerInnen (das sind 40 % der Armutsgefährdeten oder etwa 4 % aller SalzburgerInnen) kommen zu diesem niedrigen Einkommen gravierende Belastungen und Einschränkungen wie Zahlungsrückstände, unzureichende Wohnverhältnisse etc. dazu. Bei ihnen müssen wir von akuter Armut sprechen.“[1000]
Tabelle 4. Armutsgefährdung in Salzburg[a]
Frauen | Männer | insgesamt | Haushalte |
34.754 | 22.126 | 56.880 | 22.328 |
[a] Quelle: IFS 2001. [Armutsbericht 2002], S. 22. – Zur Datengrundlage sowie zur Aufbereitung im Hinblick auf die vom ECHP verwendete Armutsdefinition siehe: Armutsbericht 2002, S. 7–29., eigene Berechnung |
Tabelle 5. Akute Armut in Salzburg[a]
Frauen | Männer | insgesamt | Haushalte |
13.366 | 7.314 | 20.680 | 8.119 |
[a] Quelle: IFS 2001. [Armutsbericht 2002], S. 22., eigene Berechnung |
„... denn wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.“ Herrn Peachams Feststellung in der „Dreigroschenoper“ ist heute nur mehr mit Einschränkungen zutreffend. Wenn 11 % der SalzburgerInnen (und davon sind 58 % Frauen) unter der offiziellen Armutsschwelle leben, so kann man nicht von einer verschwindenden Minderheit sprechen, die „nicht der Rede wert“ sei. Auf die Bevölkerungsanzahl des Bundeslandes umgerechnet handelt es sich dabei immerhin um ca. 55.000 Personen. Eine gefährdete Einkommenssituation hat die Tendenz zu akuter Armut fortzuschreiten. Aktuelle Armutslagen können sich leicht zu Langzeitarmut verfestigen. Deshalb ist es sinnvoll, sich Lebenssituationen, die Armut hervorrufen, genauer anzusehen, um aus ihnen Rückschlüsse auf die Ursachen und Konsequenzen für die Armutsbekämpfung ziehen zu können. Für den beschreibenden Teil des Armutsberichtes wurden in einem breit angelegten „Salzburger Dialog gegen Armut“ zahlreiche Workshops und Gespräche mit MitarbeiterInnen von Sozialeinrichtungen in Stadt und Land geführt, die die Lebenssituationen der von Armut betroffenen Menschen in einer europäischen Wohlstandsregion möglichst genau und in aller ihrer Unterschiedlichkeit beschreibbar machen sollten.[1001] Der Bericht hat auf dieser Grundlage das gesamte, derzeit zu erfassende Spektrum an Faktoren, die für ein von Armut gefährdetes Leben in Salzburg eine Rolle spielen, erhoben und analysiert. Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, alle Faktoren ausführlich zu beschreiben. Ich beschränke mich auf eine Aufzählung und greife einen bisher eher unbekannten Bereich als Beispiel heraus. Der Bericht charakterisiert zwölf mögliche „Wege in die Armut“:
die Schattenseite der Modernisierung (Mobilität und „Bildungsexplosion“)
unterschiedliche Zugänge zu Erwerbsarbei
Arbeitslosigkeit – eine strukturell angelegte Armutsfalle
Armut trotz Transferleistungen (Beispiel: Ausgleichszulage)
unterschiedliche Zugänge zu Wohnraum
Wohnungslosigkeit
Behinderung – in hohem Maße armutsgefährdend
Migration als „Weg in die Armut“
Armut trotz Sozialhilfe
Situation von Frauen: „Armutsursache Geschlecht“
Kinderarmut
Armut durch soziale Ausgrenzung (z. B. Leben nach der Haft)
Die vielen unterschiedlichen Ursachen von Armut im Wohlstand zeigen sich besonders deutlich beim Phänomen „Kinderarmut“.[1002] Denn als „schwächste“ Mitglieder des Sozialsystems Familie sind Minderjährige von allen Armutsfaktoren, die eine Familie potenziell treffen können – seien es „Armut trotz Erwerbsarbeit“ („working poor“), Arbeitslosigkeit, ein benachteiligter bzw. besonders kostspieliger Zugang zu Wohnraum oder eine Scheidung der Eltern –, überproportional in Mitleidenschaft gezogen. Von Armut betroffene Kinder kommen hauptsächlich entweder aus Mehrkindfamilien (Familien mit drei Kindern und mehr) oder aus AlleinerzieherInnenhaushalten. Die Auflösung groß- wie kleinfamiliärer Strukturen sowie die steigenden Prozentsätze von Scheidungswaisen haben zur Folge, dass immer mehr Minderjährige einer Armutsentwicklung ausgeliefert sind und auf besondere soziale Stützungsangebote in ihrem Wohnumfeld angewiesen wären, die es in der Regel nicht ausreichend gibt. So hat das Fachgespräch mit den Sozialeinrichtungen des Pinzgaues (Zell/See, März 2001) deutlich gemacht, dass Alleinerzieherinnen in den ländlichen Gemeinden des Pinzgaues in der Regel mit mangelhafter örtlicher Infrastruktur, fehlenden Kinderbetreuungseinrichtungen sowie mit eingeschränkten Öffnungszeiten (etwa Kindergartenbetreuung nur bis 12.00 Uhr) zu kämpfen haben.[1003]
Kinder wurden bisher in den Sozialstatistiken vor allem als armutsverursachende Faktoren wahrgenommen, weniger jedoch als Betroffene, deren Lebenschancen von der Armutslage ihrer Herkunftsfamilie wesentlich beeinträchtigt werden. Nach Ergebnissen der österreichischen Armutsforschung[1004] bilden Kinder und Jugendliche einen überdurchschnittlich hohen Anteil der armutsgefährdeten Bevölkerung. Ihr Anteil liegt im Durchschnitt bei 25 %, steigt in ländlichen Regionen aber auf 33 %. In dieser Berechnung finden aber die drastisch reduzierten Bildungs- und Erwerbschancen von Jugendlichen der zweiten und dritten Generation von MigrantInnenfamilien noch keine Berücksichtigung. In deren Leben zeigt sich die Häufung von Armutsfaktoren bereits in jenem dramatisch erhöhten Ausmaß, das die Existenzgefährdung von der Ausnahme zur Regel werden lässt. Ich zitiere als Beispiel eine Falldarstellung aus dem Menschenrechtsbericht für das Jahr 2003 der „Salzburger Plattform für Menschenrechte“, einem Zusammenschluss von Nicht-Regierungs-Organisationen (non-govermental-organisations“, Abk. NGOs), die Verletzungen von Grundrechten dokumentieren und an der Beseitigung von deren Ursachen arbeiten.
„Auffallend ist, dass viele der Jugendlichen zwischen zwei Kulturen leben: Einerseits müssen sie, bedingt durch ihre Eltern, den Anforderungen ihrer Herkunftskultur entsprechen, und gleichzeitig sollen sie sich der hiesigen Kultur anpassen. Diese Situation ist zermürbend. Der Zwiespalt, verursacht durch die divergierenden Wertvorstellungen unterschiedlicher Kulturen, hinterlässt Spuren in der Identitätsfindung – bis hin zum Verlust der eigenen Identität.
Ein typisches Beispiel dazu: Der Jugendliche B ist ein talentierter junger Mann. Er ist in Österreich geboren und besucht uns schon längere Zeit. Aufgrund seiner Kindheitserfahrungen mit dem Leben zwischen zwei Kulturen, hat er große Probleme in seinem eigenen Leben zurechtzukommen. Aufgrund finanzieller und familiärer Schwierigkeiten verbrachte er die ersten vier Jahre seines Lebens bei Bekannten in der Türkei. Dann holten ihn die Eltern wieder nach Salzburg, er konnte aber seine Eltern nicht mehr als diese akzeptieren. Nach der Schulzeit brach er immer wieder Lehren ab und begann welche neu. Er verließ immer wieder Arbeitsstellen, weil ‚kleine‘ Schwierigkeiten zu unüberwindlichen Problemen wurden. Derzeit weiß er nicht, was er machen soll, wie er Anschluss zu anderen Jugendlichen, wie er Arbeit und Freunde finden kann. Langsam nimmt er Gesprächsangebote unsererseits wahr. Dies – so hoffen wir – wird in eine Therapie münden. Derzeit haben wir 15 bis 20 ähnlich gelagerter Fälle. Sie haben die Schule abgebrochen, sind somit ohne abgeschlossene Schulausbildung und wechseln von Job zu Job.“[1005]
Während das erhöhte Armutsrisiko von Minderjährigen durch deren Zugehörigkeit zu MigrantInnenfamilien nicht statistisch errechnet ist, liegen für zwei spezifische familiäre Situationen Zahlen vor: Das Armutsrisiko ist bei Kindern von Alleinerzieherinnen dreimal so hoch wie bei Kindern aus traditionell als „vollständig“ bezeichneten Familien. Arbeitslosigkeit bei Erwachsenen in der Familie erhöht das Armutsrisiko um das Fünffache.[1006]
Von der Armut ihrer Herkunftsfamilien betroffene Kinder erleben diese Armut nicht nur in ihrer aktuellen Situation. Sie sind auch in der Gefahr, die Armutsfaktoren ihrer Familie in ihrem weiteren Leben mit zu übernehmen. Neben einem erhöhten Krankheitsrisiko und der damit verbundenen Gefährdung, dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen (wie Zahnschäden, asthmatische Erkrankungen, ...) ins Erwachsenenalter mitzunehmen, ist dafür vor allem die Tatsache verantwortlich, dass diese Minderjährigen keine angemessene Schul- und Berufsausbildung erreichen können. Ca. 11 % der PflichtschülerInnen beginnen nach Beendigung ihrer Schullaufbahn keine eigenständige Berufsausbildung. Weitere 9 % der Jugendlichen brechen ihre Berufsausbildung ab und wechseln in eine ungelernte oder angelernte Hilfstätigkeit. Die aktuelle, nach wie vor hohe Zahl von arbeitslosen Jugendlichen in Salzburg wird zum überwiegenden Teil von jenen 20 % Jugendlichen ohne abgeschlossene Berufsausbildung verursacht. Die Langzeitentwicklung spricht eine deutliche Sprache: Waren im Jahr 2000 noch ca. 1.550 Jugendliche unter 25 Jahren als arbeitslos gemeldet, sind es mit Oktober 2004 bereits 2.535.[1007] Rund 46 % dieser Jugendlichen haben einen Lehrabschluss und 30 % lediglich einen Pflichtschulabschluss.
In der Phase der Adoleszenz – also während der Ablösung und der sich entwickelnden Selbstständigkeit von Jugendlichen – führt das Fortwirken von Armutsfaktoren aus der Herkunftsfamilie zu existenziellen Krisenerscheinungen: Zu den versäumten Ausbildungschancen kommen Mängel in der sozialen Betreuung (etwa ständiger Wechsel von Bezugspersonen), Gefährdung durch Drogen und Alkohol sowie beständige Wohnungsprobleme. Als Beispiel für diese Situation möchte ich die Geschichte von Felix erzählen, wie sie im Salzburger Armutsbericht wiedergegeben ist.[1008]
Felix und seine jüngere Schwester wurden im Kindergartenalter von den Eltern getrennt (häusliche Gewalt unter Alkohol- und/oder Medikamenteneinfluss). Sie verbrachten mehrere Monate in Einrichtungen des Gesundheitswesens. Nachdem die Pflegefamilie sich von den „schwierigen“ Kindern überfordert fühlte, wurden sie in einer Kinderwohngemeinschaft untergebracht. Im Alter von 16 Jahren hatte Felix insgesamt 20 unterschiedliche Betreuungspersonen gehabt, die für seine Erziehung zuständig waren:
„Felix beendet die Pflichtschule mit positivem Hauptschulabschluss und beginnt eine Lehre als Einzelhandelskaufmann in einem Salzburger Großmarkt. Nach den Richtlinien für die Kinderwohngemeinschaft soll Felix nach dem Ende des ersten Lehrjahres in eine seinem Alter adäquate Wohnform übersiedeln (...), und es wird mit dem Jugendamt ein Wechsel in eine Burschenwohngemeinschaft vorbereitet. Felix sieht den Auszug positiv und erwartet sich mehr Freiraum und mehr Interessensübereinstimmung mit den Gleichaltrigen in der Jugendwohngemeinschaft als in der behüteten Kinderwohngemeinschaft, wo er mit Abstand der Älteste war. In dem Monat vor dem Auszugstermin eskalieren die Konflikte mit KollegInnen am Arbeitsplatz. Er schwänzt die Berufsschule und möchte einen anderen Lehrberuf. Nach Unregelmäßigkeiten im Betrieb verliert er seine Lehrstelle. Juni 2001: Felix übersiedelt zwar in die Jugendwohngemeinschaft, lässt sich aber auf keine Betreuung mehr ein. Er möchte selbständig wohnen und eckt überall an. Knapp zwei Monate nach seiner Aufnahme muss er wegen Haschischkonsums ausziehen und kommt im August 2001 in eine Einrichtung zur Aufnahme von Jugendlichen in akuten Krisensituationen, wo er ebenfalls heftig gegen alle Regeln rebelliert. (...) Felix wohnt ab Oktober 2001 allein in einer Garconniere hält sich aber wenig an Auflagen seines neuen Betreuers, den er bei Terminen regelmäßig versetzt. Wegen Verdachts auf Drogenkonsum muss Felix zum Drogentest, der positiv ausfällt. (...) April 2002: Nach etwa drei Monaten in einem Pensionszimmer (ohne Betreuung) wird Felix wegen einer nächtlichen Ruhestörung auf der Stelle aus der Pension rausgeschmissen und landet erstmalig auf der Straße. Nach einer Nacht in einem Keller eines fremden Wohnhauses wird Felix in der Jugendnotschlafstelle ‚Exit 7‘ aufgenommen. Bereits wenige Tage später lässt er sich aber beim Haschischkonsum in der Einrichtung erwischen und wird auch hier mit einer Sperrfrist belegt. Felix sucht wieder seine Mutter auf, und wird in der Folge von seinem Vater abgeholt und befristet aufgenommen – bis er etwas Eigenes gefunden hat.“[1009]
Es ist kein Zufall, dass die beiden Fallgeschichten zu Kinder- und Jugendarmut Extremsituationen beschrieben haben, in denen die Betroffenen aufgrund von Existenzgefährdung zum Kontakt mit sozialen Institutionen gezwungen waren. Weiters ist es typisch, dass beide Betroffene in der Stadt Salzburg leben. Denn die Erfahrungen, die von den Beratungs- und Betreuungseinrichtungen an das Netzwerk weitergegeben wurden, weisen eine klare Tendenz auf: In den meisten Fällen nehmen armutsgefährdete Personen in Salzburg keinen Kontakt zu Sozialeinrichtungen oder offiziellen Institutionen wie dem Sozialamt auf. Die Ursachen für jene erhöhte Schwellenangst gegenüber institutioneller Hilfe liegen klar auf dem Tisch: Die eigene Armutslage wird von den Betroffenen mit einer Mischung aus Scham – wegen der „Schande“ sozialer Hilfsbedürftigkeit – und Angst vor den Folgen dieser Hilfsbedürftigkeit betrachtet. Dass diese Betrachtungsweise aus der Perspektive armutsgefährdeter Menschen keineswegs unrealistisch ist, zeigt die Beobachtung, dass Armut auch und gerade in Wohlstandsregionen mit dem Stigma von persönlicher Unzulänglichkeit und Unehrenhaftigkeit versehen wird. Dieses Bild einer ausschließlich persönlich verschuldeten und hauptsächlich privat zu verantwortenden Armut verfestigt sich im Zusammenspiel von Meinungsbildern und Sozialpolitik: Meinungsbilder im unmittelbaren sozialen Umfeld der Armen bringen deren Situation oft unreflektiert mit Charaktereigenschaften wie Dummheit, Faulheit, Aufsässigkeit etc. in Verbindung. Von der gegenwärtig vorherrschenden Strategie einer Sozialpolitik, die (mit unterschiedlichen Begründungen) eine verstärkte Privatisierung sozialer Risiken vorantreibt, werden die zuvor genannten Meinungsbilder „objektiviert“ und bestätigt. In jenem Zusammenspiel von subjektiver Scham und gesellschaftlicher Ächtung lässt sich darüber hinaus ein deutliches Stadt-Land-Gefälle ausmachen:
„Auf dem Land sind die Hemmschwellen und Barrieren aufgrund dieser sozialen Kontrolle im Dorf höher. Die von Armut Betroffenen haben oft Angst davor, ihre Notlage einzugestehen oder Hilfe zu suchen. (...) Die fehlende Anonymität und Privatsphäre im ländlichen Raum ist oft mit ein Faktor, welcher eine effiziente und erfolgreiche Hilfe behindert oder sogar unmöglich macht.“[1010]
Aus der Praxis der Beratungsstellen im Raum Hallein und Umgebung wird deutlich, dass Armutsbetroffene sogar aktiven Widerstand zeigen gegen Vorschläge, institutionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (Fachgespräch Hallein, März 2001). Der Kontakt zu sozialen Einrichtungen kommt häufig erst dann zustande, wenn „es zu spät ist“, d. h. wenn die Armutssituation Jahre andauert und sich massiv verfestigt hat. Diese hohen Schwellen zeigen sich auch bei der Inanspruchnahme von Sozialhilfe. Wie bereits gesagt, sind zwar ca. 11 % der Salzburger Bevölkerung armutsgefährdet und ca. 4 % akut arm. Dennoch beziehen im Durchschnitt lediglich ca. 1,9 % Sozialhilfe. Auch das Stadt-Land-Gefälle bei der Tabuisierung von Armut lässt sich an der Sozialhilfestatistik ablesen – so etwa bei den von der offenen Sozialhilfe unterstützten Personen pro tausend Einwohner in den Bezirken[1011]
Salzburg-Stadt: 40,2
Hallein: 11,1
Salzburg-Umgebung: 11,4
St. Johann: 6,8
Tamsweg: 4,4
Zell/See: 13,8
Bundesland gesamt: 18,8
Um diese hohen Schwellen abzubauen, bedarf es einer Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen, die auf allen Ebenen des sozialen Netzes ansetzen und nicht nur auf einer. Neben der sicher notwendigen Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung,[1012] die subjektive Scham abzubauen hilft, braucht es niedrig schwellige Kontaktangebote der Sozialeinrichtungen – wie etwa begleitende telefonische Beratung oder persönliche, nicht stigmatisierende Kontaktmöglichkeiten (durch Erwachsenenbildungsangebote oder Flohmärkte) – und nicht spezialisierte, regionale Anlaufstellen nach dem „One-desk-Prinzip“ (regionale Sozialzentren, die eine fachübergreifende Beratung bieten und Antragstellung ermöglichen). Diese Umorientierung von Sozialeinrichtungen allein muss aber wirkungslos bleiben, wenn sie nicht von einer Umorientierung in der Sozialpolitik begleitet wird, die die soziale Infrastruktur im Bundesland Salzburg auf mehreren Ebenen transformiert. Der Armutsbericht fordert eine Veränderung in fünf Bereichen; Sozialpolitik braucht:
mehr Integration und soziale Teilhabe
mehr Berücksichtigung regionaler Besonderheiten
Prävention als Schwerpunkt sozialen Handelns
mehr KonsumentInnenschutz und KlientInnenvertretung
eine echte Demokratisierung sozialen Handelns
http://www.salzburger-armutskonferenz.at/
www.menschenrechte-salzburg.at
Die folgenden Texte sind erhältlich beim „Salzburger Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung“, Plainstr. 83, 5020 Salzburg. E-Mail: office@salzburger.armutskonferenz.at
[Armutsbericht 2002] – Der Salzburger Armutsbericht ist sowohl in einer Kurzfassung als auch in der vollständigen Textversion als Download auf der Homepage www.salzburger-armutskonferenz.at verfügbar.
[Böhm/Buggler 2003].
[Pfeil 2003].
Die folgende Broschüre ist erhältlich bei der „Salzburger Plattform für Menschenrechte c/o“ ArbeiterInnenBegegnungsZentrum, Kirchenstr. 34, 5020 Salzburg. E-Mail: office@menschenrechte-salzburg.at:
Salzburger Plattform für Menschenrechte (Hg.): Menschenrechte in Salzburg 2004. Salzburg 2003.
[998] Vgl. [MautnerJ 2003], bes. S. 84/85.
[999] Die Ergebnisse des ECHP enthalten eine Fülle zusätzlicher Daten: Die Europäische Kommission verwendet mittlerweile 18 Indikatoren, die genannten 6 sind jedoch die seitens der EU am häufigsten herangezogenen. Vgl.: [Buggler 2003], S. 61–67.
[1000] [Armutsbericht 2002], S. 18. – Der Salzburger Armutsbericht ist sowohl in einer Kurzfassung wie in der vollständigen Textversion als Download auf der http://www.salzburger-armutskonferenz.at/ verfügbar.
[1001] Die meisten dieser Einrichtungen haben sich in der Folge (formell oder informell) dem Salzburger Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung angeschlossen und arbeiten innerhalb des Netzwerkes an einer basisorientierten Sozialpolitik mit. Vgl.: [Armutsbericht 2002], S. 8.
[1002] Siehe: [Armutsbericht 2002], S. 143–162.
[1003] [Armutsbericht 2002], S. 137.
[1005] [Salzburger Plattform für Menschrechte]. – Fallbeispiele zu Kinderarmut in Österreich finden sich in: [Theiss 2001]. – Auf der Homepage der Plattform finden sich auch Einzelfalldokumentationen und Situationsberichte zu verschiedenen Themen der Menschenrechtsarbeit wie z. B.: „Flüchtlinge“, „MigrantInnen“, „Kinder- und Jugendrechte“, „Diskriminierung“, „BürgerInnenrechte“ etc.
[1006] Vgl. [Wintersberger 1996].
[1007] Die jeweils aktuellen Zahlen sind auf der Homepage des Arbeitsmarktservice verfügbar.
[1008] Name geändert.
[1009] siehe: [Armutsbericht 2002], S. 148/149.
[1010] [Armutsbericht 2002], S. 167.
[1011] Quelle: Sozialbericht des Landes Salzburg 2003
[1012] So etwa durch die Sozialhilfekampagne „Salzburg braucht Mut“, die das Land in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung 2003 durchgeführt hat.