Wallfahrten sind keine Erfindung des Christentums. Solange wir in der Religionsgeschichte der Menschheit zurückblicken, gab es stets die Überzeugung, dass das Wirken der Gottheit an ganz bestimmten Orten besonders spürbar sei und somit der Mensch sich an diese Plätze hinbegeben müsse, wenn er Heilung und Hilfe erfahren wolle. In der Frühgeschichte des Christentums ist eher eine ablehnende Haltung der Wallfahrtspraxis der Antike gegenüber festzustellen, denn sie war zu stark mit heidnischen Bräuchen durchsetzt. So ist es verständlich, dass die frühesten Zeugnisse von Pilgern der jungen Kirche nicht zu Orten der Marienerscheinung gehen, sondern zu Grabstätten der Märtyrer.
Durch den Glauben an die Auferstehung des Herrn wurde das Geheimnis des Todes zu einem Geheimnis des Lebens verwandelt. So schreibt der Bischof Theodoret von Kyrrhos († 466): „Zu den Martyrern kommen die Christen, indem sie sie anflehen ihre Fürbitter zu sein. Dass sie aber erlangen worum sie vertrauensvoll gebetet haben, das beweisen deutlich ihre Votivgeschenke, die die Heilung kundtun. Die einen bringen Bilder der Augen, andere der Hände, die zuweilen aus Gold, zuweilen aus Holz gefertigt sind. ... Es offenbaren diese Gaben und die Heilung von den Leiden, weswegen sie von den Gesundgewordenen gebracht wurden und sie bezeugen die Macht derer, die hier ruhen und diese Macht erweist ihren Gott als den wahren Gott.“
Die andere große Bewegung der Wallfahrten im frühen Christentum geht in die Heimat Jesu. Die Christen erinnern sich auf dem Weg in das Heilige Land an die Situation des Alten Bundes, da Abraham der Vater des Glaubens in Gehorsam gegen die Weisung Gottes seine Heimat verlassen und in eine ungewisse Zukunft aufbrechen musste; sie besannen sich an den Zug des Volkes aus Ägypten durch das Rote Meer und wussten so ihr eigenes Leben als einzige Pilgerschaft den wiederkommenden Herrn in die himmlische Stadt Jerusalem entgegenzugehen, zu begreifen. „Wir sind nur Gast auf Erden” – dieses Lied, das auch heute noch gesungen wird, erinnert uns an unser Leben der Pilgerschaft zwischen zwei Welten. Erst als das Christentum 397 Staatsreligion geworden war, verloren sich die Bedenken gegen heidnisches Wallfahrtswesen allmählich.
Als unser ostalpiner Raum (die alten römischen Provinzen Rätien und Noricum) nach dem Zusammenbruch der Völkerwanderung im 7. und 8. Jahrhundert aufs Neue christianisiert wurde, knüpfte man bewusst an Heiligtümer an, die bereits in vorchristlicher Zeit Kultstätten gewesen waren. Schon Papst Gregor der Große († 604) hat in der Instruktion an Bischof Augustin von Kent die Weisung ausgegeben, des Volkes heidnische Kultstätten nicht zu zerstören, sondern an diesen altvertrauten Orten die christlichen Gotteshäuser zu bauen. So vermutet man solche Plätze bei uns beim Seekreuz im Weißpriachtal/Lungau, beim „alten Wilhelm” am Seewaldsee bei St. Koloman und bei der Kirche am Johanneshögel (seit 1816 Oberbayern) mit dem herrlichen Blick über das Salzburger Becken.
Da es nun hier keine Märtyrergräber mehr gab, haben zwei andere Formen die Nähe des Heiligen für den Hilfe suchenden Menschen besonders anschaulich gemacht: Die Reliquien und das Gnadenbild. Beide Dinge hat das Christentum nicht nur geduldet, sondern seit der Spätantike mit allen Mitteln gefördert. Wo Überreste von Heiligen, Aposteln oder Märtyrern ruhten, dorthin begaben sich Christen mit Vorliebe. Lastwagenweise wurden solche Überreste spätantiker Martyrer von den südlichen Ländern in die großen Zentren des ostfränkischen und gallischen Raumes gebracht. Auch im alten romanischen Dom zu Salzburg gab es Wallfahrten zu den einzelnen Altären, in denen die Reliquien vermauert waren, damit sie dem Zugriff Unbefugter entzogen sind. Betrachtungen und nächtelanges Wachen in Verbindung mit vielen Kniebeugen vor den Altären waren wie geschaffen, den Leib in Zucht zu nehmen. Psalmengebet unter Tränen beim Ziehen von Altar zu Altar war eine typische Form der Frömmigkeit, wie sie Mönche und Pilger bis ins 12. Jahrhundert pflegten. Dabei wurde der Heilige, dessen Überreste hier ruhten, stets als handelnde Person betrachtet: Er wünschte ja hier seine Ruhestätte zu haben.
Die Neuzeit begann hier grundsätzlich anders zu denken. Für sie war es das Bild des Kultes, das mit numinoser Kraft verkündet: „Gott ist gegenwärtig in all seiner Hoheit seiner Herrlichkeit und der Fülle seines Heiligen Willens.” Deshalb gehört zu jeder Wallfahrt das Kultbild. Das Christentum hat der Welt die Freiheit zum Bild geschenkt. Das strenge Bilderverbot, das im alten Israel die Integration des Schnitzbildes im Kult untersagt hat, war gegenstandslos geworden, seit die Ikone des Vaters, dieser Jesus unter uns leibhaft erschienen ist. „Wer mich sieht, sieht den Vater” heißt es im Johannesevangelium (Jo 14, 9). Auch hat das Christentum in seiner Gesamtheit niemals den Weg fernöstlicher Weltanschauungen beschritten, die die Bilder der trügerischen Sinnenwelt zurechnen und diese deshalb auszulöschen trachten, weil sie den Weg zur gegensatzlosen Einheit angeblich versperren.
Ein weiterer Punkt kommt dazu. Wenn wir uns die Frage stellen: „Warum stehen die Wallfahrtskirchen dort wo sie stehen?”, so kommen wir auf merkwürdige Ergebnisse. Es ist niemals ein Zufall, weshalb in oft schwierigen, abgelegenen, teils nur mit hohen Kosten zu erreichenden Zugängen Wallfahrten entstanden sind. Es hat dies mit der Strahlung des Ortes etwas zu tun. Die Strahlenfühligkeit von Menschen hat es stets erspürt, dass gewisse Orte so positiv bestrahlt sind, dass der Mensch sich dort immer wohl fühlen musste und für die Einsprechungen der Gnade, seine Motivation sein Leben zu ändern, besonders aufgeschlossen war.
In der Sprache spätmittelalterlicher bzw. frühneuzeitlicher Legendenbildung haben diese Wahrheiten einen höchst anschaulichen Hintergrund erhalten. Es war nie der Mensch selbst, der solche Stätten ausfindig gemacht hat, sondern weisende Tiere (das Ochsengespann, das von allein den Weg findet) oder das bekannte „Rückkehrmotiv”, das von allein von dem einsamen Fundort im Wald zurückkehrt und dies sogar mehrmals. Auch Lichtwunder können eine Rolle spielen. Solche Gründungslegenden kennen wir etwa von St. Leonhard bei Tamsweg, Mariapfarr, Arnsdorf bei Lamprechtshausen. Auch das Lorettokindl in Salzburg kehrt auf wunderbare Weise immer wieder zu seinem Besitzer zurück.
Daneben spielen noch der Quellen-, Baum- und Steinkult eine besondere Rolle. Hier sind es auffallende Naturvorkommnisse, die den ausschlaggebenden Beweggrund zur Wallfahrt bilden. Offensichtlich hat sich das Christentum bemüht die seit Jahrhunderten im Volk als heilig verehrten Orte nun aus dem Glaubensgut der Vorzeit in das christliche Brauchtum einzubinden. Quellheiligtümer spielen an mehreren Orten als „Bründl” eine Rolle. So in St. Koloman, in Kaltenhausen, in Embach oder in Untereching bei St. Georgen.
Diese Quellheiligtümer stehen unter der Patronanz verschiedener Heiliger: Bartholomäus, Koloman, Emmeram und natürlich der Gottesmutter. Gebraucht wurden diese Quellen gegen Augenleiden, bei Fußschmerzen und ganz allgemein bei Schäden und „Zuständen”, aber auch für das Wachstum in der Natur und gegen Schädlinge auf dem Feld wurde dieses heilkräftige Wasser verwendet. Europa kannte niemals heilige Flüsse (wie etwa in Indien), sondern nur heilige Quellen; ebenso war niemals der Wald heilig, sondern der Baum.
Baumkulte gibt es einige sehr auffällige. Heilige Bäume waren als Grenzgemarkung bekannt; der Ortsname Puch bei Hallein rührt von einem solchen heiligen Baum. In Maria Alm (Pinzgau) weiß man zu berichten, dass das Gnadenbild ursprünglich an einem Baum befestigt war. Das ehemalige Kultbild von Altenmarkt (Pongau) weist heute noch den Namen Madonna von der Tanne auf. Ursprünglich stand diese kostbare Steinfigur hinter dem Chorhaupt der Kirche an einer Tanne. Bis heute unverändert hat sich in dem ältesten ununterbrochen besuchten Wallfahrtsort unseres Raumes die Baumsituation erhalten: in St. Leonhard im Lungau steht das Gnadenbild immer noch auf dem Baumstamm, auf dem es gefunden wurde.
Noch viel deutlicher weisen die Steinkulte auf die vorchristlichen Ursprünge der heiligen Orte in unserem Land. Am deutlichsten ist dies für den Fagerstein bei St. Koloman bezeugt, eine Wallfahrtsstätte, die die geistliche Obrigkeit durch Jahrhunderte zu unterbinden versuchte. Das Volk warf nicht nur in den Spalt zwischen den beiden mächtigen Felsblöcken ihre Bitt- und Dankopfer hinab, sondern versuchte auch hindurch zu schliefen. Derselbe Brauch ist in der Kapelle zum heiligen Sixtus in Wald (Pinzgau) bezeugt, wo ein „Schliefstein” den Hauptanziehungspunkt der Wallfahrt ausmachte. Erst 1792 wurde dieser auf Befehl von Erzbischof Colloredo gesprengt.
Der wohl bekannteste schliefbare Felsspalt liegt neben der Höhle, in der der heiligen Wolfgang als Einsiedler am Falkenstein (bei St. Gilgen) gehaust hat. Vermutlich wurde er schon in vorchristlicher Zeit als Heilkultstätte besucht. Schwangere Frauen krochen, um eine leichtere Entbindung zu erlangen, durch ihn hindurch. Wenn man frei von Sünden ist – so will es die Volkssage – gelingt es auch dem beleibtesten Menschen hindurchzukriechen. In diese Gruppe gehören auch die Spuren- und Schalensteine, deren meist vom Wasser ausgewaschenen Formen die Phantasie des Volkes beeindruckt haben. Hierher zählt Fußabdruck des heiligen Wolfgang hinter dem Chorhaupt der Filialkirche von Kirchgöming (bei Oberndorf an der Salzach) und die Fußabdrücke der drei Waller in der gleichnamigen Kapelle am Eingang des Gasteinertales. Noch bis zur Bombenzerstörung (1944) waren in einem Marmorgewände zum Eingang in die Einsiedlerkapelle in die Klosterkirche von Maria Loretto in Salzburg die angeblichen Teufelskrallen zu sehen, die von den Nachstellungen des bösen Feindes bis in das Heiligtum anschaulich berichteten. Der interessanteste Schalenstein befindet sich in der Wallfahrtskirche von Hollenstein bei Ramingstein in Lungau. Maria habe mit dem Jesuskind hier gerastet, so will es die Legende.
Niemals jedoch hat das Christentum in irgendeiner seiner Formen die Wallfahrt zur Pflicht gemacht. „Du kannst nicht in den Himmel kommen, wenn Du nicht einmal in Deinem Leben wallfahren gegangen bist”, diese Behauptung gab es niemals. Wallfahrten waren immer Angelegenheiten des Volkes; von der Obrigkeit sind sie selten organisiert oder befürwortet worden. Da meist tagelange Fußmärsche zurückzulegen waren bis man am Wallfahrtsort angekommen ist, waren die Pilger dort vollkommen erschöpft. Deshalb haben die Gottesdienste keine langen Predigten gekannt. Man ist zumeist beichten gegangen und hat kommuniziert. Den bildungsbeflissenen Aufklärer, wie es Erzbischof Colloredo war, hat dies natürlich gestört und deshalb suchte er die Wallfahrten zu unterbinden, weil eine Predigt in der eigenen Pfarrkirche nützlicher sei als das Wallfahrten. „Viel Wallfahrten macht selten heilig” so steht es schon in der „Nachfolge Christi” zu lesen.