Das 20. Jahrhundert war in vieler Hinsicht ein „Jahrhundert der Extreme“, wie ein bekannter englischer Historiker vor einigen Jahren schrieb.[945] Dies gilt nicht zuletzt auch für die Sozialgeschichte des Salzburger Landes. Während die meisten der heute lebenden Generationen durch die Erfahrungen des wirtschaftlichen Aufschwunges seit den 1950er-Jahren und der Entwicklung einer modernen Konsumgesellschaft geprägt sind, ist es schwer vorstellbar, dass uns nur wenige Jahrzehnte von den Auswirkungen der Massenarmut der Zwischenkriegszeit trennen. Doch für die davon betroffenen Generationen blieben diese Erfahrungen des Ausgeliefertseins, der permanenten Existenzangst, die mit der wirtschaftlichen und sozialen Krise einhergehende Krise des politischen Systems bis hin zum Scheitern der Ersten Republik, gleichviel inwieweit die Menschen unmittelbar oder nur mittelbar davon betroffen waren, zu einer generationsprägenden Erinnerung.
Die moderne Armut im 20. Jahrhundert ist anonymisiert und bürokratisiert. Sie findet sich in zigtausendfach ausgefüllten Formularen, Akten und Verwaltungsvorgängen. Obwohl massenhaft dokumentiert, ist sie mitunter schwierig zu erfassen. Not und Einzelschicksale verwandeln sich in der Routine der Formulare in Strichlisten und kurze Anmerkungen und geben die bürokratische Sicht auf die Armut wieder. Der Mensch verschwindet aus dem Geschehen und zurück bleiben Zahlenangaben, Statistiken und erledigte Aktenvorgänge.
Wenige Quellen beschreiben uns unmittelbar und unverfälscht die Erfahrungen einzelner Menschen mit der Armut. Die heute so verbreitete Erinnerungsliteratur (Oral History-Projekte, Zeitzeugengespräche, TV-Dokumentationen),[946] so aufschlussreich sie auch ist, gibt die Erinnerungen verändert – im Abstand von Jahrzehnten sowie im Spiegel des Danach – wieder. Sucht man aber nach authentischen Selbstzeugnissen der Armut aus dieser Zeit, so wird man selten fündig. Eine der seltenen Quellen, die uns einen unmittelbaren Einblick in die Nöte der Zwischenkriegszeit geben, steht uns in Salzburg zur Verfügung: Es handelt sich um den Aktenbestand von Landeshauptmann Dr. Franz Rehrl (1922–1938).[947] Aufgrund seiner fast die gesamte Epoche der Ersten Republik (1918–1937) umfassenden Amtszeit liegt uns mit dem daraus erhaltenen Schriftverkehr ein wertvoller Quellenbestand für zeitgeschichtliche Forschung vor. In diesem Quellenbestand finden sich auch zahlreiche Bittbriefe und Hilfsersuchen, die uns – bei aller möglichen Überzeichnung und Anpassungen an den Empfänger – aus der unmittelbaren Lebenssituation heraus den Alltag inmitten und im Umfeld der Armut in den 1920er- und 1930er-Jahren beschreiben. Da die wirtschafts- und sozialpolitischen Fakten dieser Zeit in der Fachliteratur bereits ausreichend publiziert wurden, möchte dieser Beitrag, abgestützt auf diese Originalquellen, eine Beschreibung der Armutserfahrungen in der Zwischenkriegszeit (1918–1938) in einigen ausgewählten Aspekten und Beispielen liefern.
Der Zerfall der Donaumonarchie in neue selbstständige Staatsgebilde bedeutete auch das Ende für ein historisch gewachsenes Wirtschaftsgebiet, dass durch einen hohen Grad an regionaler Arbeitsteilung gekennzeichnet war. Die neuen Grenzen trennten Rohstoffgebiete von Verarbeitungsbetrieben und setzten eine Vielzahl neuer nationaler Märkte an die Stelle des früheren einheitlichen Absatzgebietes. Die Wirtschaftsstruktur der neuen Republik Österreich wies daher gewaltige Disproportionalitäten auf, die zu radikalen Anpassungsprozessen zwangen. Diese Umstellungsprozesse wurden jedoch noch erschwert durch die Folgewirkungen des Ersten Weltkrieges. Rund ein Drittel des gesamten Volkseinkommens war in den Kriegsjahren 1914–1918 für die Kriegsführung im wahrsten Sinne des Wortes „verpulvert“ worden. Geldentwertung, Zerrüttung der Wirtschaft, Desorganisation des Verkehrswesens, soziales Elend, Hunger und Unterernährung bildeten das „Erbe“, das die neue Republik zu übernehmen hatte.[948]
Diese ungünstigen ökonomischen Bedingungen, die der Republik gleichsam als Geburtsmakel mitgeben waren, führten dazu, dass Österreich in der gesamten Zwischenkriegsphase von Problemen betroffen war und keine wirkliche Aufschwungphase zum Tragen kam. Auf die unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegsprobleme wie Hungersnot, Kriegsopferversorgung, Krankheitsepidemien folgten Inflation und Arbeitslosigkeit – neben den schon alltäglich gewordenen Problemen wie Wohnungsnot und stagnierende Gehälter.
Die soziale Nachkriegssituation in Salzburg war von zwei Problemen dominiert, die weite Bevölkerungskreise in Mitleidenschaft zogen: die drastische Verschlechterung der Ernährungsversorgung und die Inflationsentwicklung. Die seit dem Kriegswinter 1916/1917 deutlich verschlechterte Ernährungslage verschärfte sich bei Kriegsende dramatisch, so dass die – ohnehin nicht einmal 50 Prozent des Tageskalorienbedarfes eines erwachsenen Menschen deckenden – Rationen weiter gekürzt werden mussten. Die Hungererscheinungen dieser Jahre führten zu einer um sich greifenden Schwarzmarktwirtschaft und trafen die städtische Bevölkerung in besonders hartem Ausmaß. Die Versuche der Behörden, die Situation durch ein zentralstaatliches Bewirtschaftungssystem zu bewältigen, führten zu einer weiteren Verschärfung der Interessengegensätze zwischen ländlichen und städtischen Regionen, da weite Teile der Bevölkerung eine ablehnende Haltung gegen die Bewirtschaftung einnahmen.
Die Erfahrungen mit der Nahrungsmittelnot der unmittelbaren Nachkriegszeit hinterließen eine Verbitterung, die sich bei manchen Menschen auch nach Jahren noch bemerkbar machte. So schrieb, als Antwort auf einen Aufruf des Landeshauptmannes im „Salzburger Volksblatt“ zur schweren Not der Bauernschaft, ein Bewohner aus der Stadt Salzburg:
„So sehr entschlossene Hilfe Not tut, so wichtig scheint aber gerade der jetzige Augenblick um die hilfesuchende Bauernschaft an die letzten Kriegs- und Nachkriegsjahre zu erinnern, in denen die Not den Städtern im Nacken saß, und das Mitleid der Bauernbevölkerung trotz aller Hilferufe nur schwer zu erreichen war. Ist es notwendig an die Zeiten zu erinnern, in denen der Bauer sein Mehl, sein Obst lieber den Schweinen zum Fraß vorwarf, als daß er sie gegen schwerverdiente ‚Papierfetzen‘ [Anm.: der Ausdruck soll ebenfalls von Bauern stammen und meint Papiergeld] den ausgemergelten Stadtfräcken verkauft hätte? [...] Glauben sie, die bitteren Empfindungen und Gefühle jener Tage, an denen sie vergebens und zu tiefst erniedrigt vor verschlossenen Bauerntüren standen, wären zur Gänze vergessen? [...] Unmöglich scheint mir jedoch eine Hilfe, solange das Gefühl und Denken der Stadtbevölkerung von diesen bitteren Erwägungen erfüllt und beeinflusst wird.“[949]
In seinem Antwortschreiben führte Landeshauptmann Rehrl aus, dass
„wenn ich auch ohne weiteres zugeben will, dass sich in jener Zeit des härtesten Kampfes um das tägliche Brot manches ereignet hat, worunter gerade die Stadtbevölkerung schwer zu leiden hatte [...] ist an ein wirtschaftliches und kulturelles Vorwärtsschreiten nur dann zu denken, wenn alle Gruppen und Schichten der Bevölkerung zusammenstehen und nicht aus bitteren Erinnerungen der Vergangenheit das Recht zu schöpfen glauben, sich feindselig oder zumindest hartherzig gegenüberstehen zu dürfen.“[950]
Neben diesen Sorgen um das tägliche Brot hatte sich auch die Wohnungssituation in Salzburg, bedingt durch die vielen Zuzüge als Folge des Krieges, zu einer Wohnungsknappheit verschlechtert. Mit zahlreichen Hilfsersuchen und Interventionen bemühten sich immer wieder Menschen um Zugang zu erschwinglichem Wohnraum. Im Gefolge dieser Alltagsnöte, dem Existenzkampf um alltägliche Notwendigkeiten wie Nahrung und ein Dach über dem Kopf, kam es zu einem spürbaren Anstieg der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus. Feindbilder und sozialdarwinistische Vorstellungen fanden einen sozialen Resonanzboden in den Ängsten vieler Menschen.
So erbat ein im Briefkopf als „politischer Schriftsteller“ ausgewiesene Studienkollege von Landeshauptmann Rehrl aus Mährisch-Ostrau (Bergbau- und Industriezentrum; heute Ostrava) vom „lieben Rehrl“ Hilfe bei der Beschaffung einer Wohnung für seine Mutter. Er schrieb:
„In Salzburg kann sie keine Wohnung, d. h. nur ein kleines Zimmer zu erschwingbarem Preis bekommen. Ausländer, Fremdrassige haben Villen, Bodenständige, Erbeingesessene können sich im Mirabellpark schlafen legen, wenn sie dabei nicht verhaftet werden. Ich möchte nun um Deine Fürsprache bitten“.[951]
Die Antwort Rehrls gibt einen Einblick in die Wohnungsmisere dieser Jahre:
„Was die Wohnungsangelegenheit Deiner Frau Mutter betrifft, so werde ich gewiß bemüht sein, das Möglichste zu tun, kann Dir jedoch aus eigener Erfahrung – da ich selbst bereits seit 2 Jahren vergeblich eine passende Wohnung suche – sagen, wie schwer es ist, eine Wohnung oder auch nur ein Zimmer zu bekommen“.[952]
Die schon seit der Kriegszeit zunehmende Inflation führte zu einer eklatanten Steigerung der Lebenshaltungskosten. Diese betrugen am Ende des Kriegsjahres 1918 bereits das 13-fache der Friedenszeit. Diese Entwicklung setzte sich im Zuge der ökonomischen Anpassungsprobleme in den ersten Nachkriegsjahren dramatisch fort und traf vor allem den Mittelstand. Gerade diese soziale Schicht hatte bereits während des Krieges einen großen Teil ihres mobilen Kapitals in Form von Friedensanleihen angelegt, die nun völlig entwertet waren. Die Geldentwertung traf nun besonders die Beamtenschaft, die Gewerbetreibenden und die freien Berufe. Diese Verluste an Ersparnissen und Anlagekapital wurden aber vielfach nicht als Folge der ökonomischen Probleme, sondern als Ergebnis der neuen politischen Strukturen aufgefasst und führten langfristig zu einer Entfremdung dieser eigentlich stets staatstragenden Schichten der jungen Republik.
Die unmittelbaren Auswirkungen spürten vor allem die Gehaltsabhängigen sofort. So richtete etwa der „Verband der Fürsorgerinnen Salzburgs“ in einer Eingabe an die Landesregierung die Bitte um eine Gehaltserhöhung für die Fürsorgerinnen des Landesjugendamtes:
„Die unermeßlich gestiegenen Preise aller Lebensmittel und Bedarfsartikel in den beiden letzten 2 Monaten haben aber die wirtschaftliche Existenz der Fürsorgerinnen völlig untergraben, und sie, soweit sie nicht die Möglichkeit haben bei ihren Angehörigen zu leben, in Not und Schulden geraten [lassen]. [...] Wie schon erwähnt, hat die katastrophale Teuerung die Existenz sämtlicher Fürsorgerinnen unmittelbar in Frage gestellt, und konnte Gefertigte [Anm.: Absender ist der Verband der Fürsorgerinnen, aber die Leiterin des Verbandes führt Beispiele aus ihrer eigenen Erfahrung an] bei ihrer letzten Inspektionsreise sich selbst davon überzeugen, dass die Fürsorgerinnen am Rande ihrer Leistungsfähigkeit angelangt sind, zumal einzelne davon, die lediglich von ihren Bezügen zu leben gezwungen sind, in Schulden geraten sind und Hunger leiden müssen, sodass insbesondere die Fürsorgerin in Hallein bereits bedenkliche Schwächeanfälle erlitten hat. Alle Fürsorgerinnen und Hilfsfürsorgerinnen haben sich ausnahmslos an die Gefertigte mit der dringenden Bitte ihr hartes Los durch Erwirkung einer ihrer Praxis, Tätigkeit und Vorbildung entsprechenden Bezahlung ehestens bei der Landesregierung zu lindern, sollen sie nicht wirtschaftlich zu Grunde gehen.“[953]
Die weiter galoppierende Inflation brachte weite Bevölkerungskreise in Existenznot. Besonders hart betroffen wurde die Beamtenschaft, deren ohnehin geringe Einkommen mit der Geldentwertung nicht Schritt halten konnten. Einen seltenen Einblick in die monatlichen Ausgaben einer Familie in der Inflationszeit gibt uns das Bittgesuch eines Beamten aus dem Jahr 1923:
„Dank Ihrer Höchsten Güte habe ich mich einmal aus einer schweren Lage befreit und bezahlt was ich an Schulden rückständig war. Es kann ja aus meiner Person kein gesunder Mensch mehr werden, wenn ich immer in Sorgen und Not leben muß, mich für Frau und Kinder aufopfern um das bischen Dasein was wir haben, unser karges Essen können wir nicht mehr verkürzen. Ich bin Invalide und bin 1923 mit 8.000 Kronen abgefertigt worden, meine Frau ist schwer herzleidend, meine beiden Söhne einer 19 Jahre alt ist im Stift Admont als Forstpraktikant ohne einen Heller Gehalt, der zweite 17 Jahre alt seit einem Jahr in der Kaufmannsbranche als Lehrling tätig. [...] Wie soll ich meine Familie mit einem Gehalt von 1,5 Millionen Kronen erhalten und kleiden. Was hab ich seit 1914 verloren? Ich bin ein Opfer des Krieges, seit meiner Rückkehr vom Felde [...] war ich bei der Bezirkshauptmannschaft in Salzburg [...] ab 1923 zur Landesregierung transferiert. [...] ebenso bin ich nicht pensionsberechtigt, was soll aus meiner Familie werden, wenn mir etwas zustossen sollte? [...] Ich weis dass es auch anderen Bundesbeamten nicht gut geht, aber mit meiner Familie und den schon großen unversorgten Kindern, habe wohl am meisten zu leiden, wie schmerzlich das ist wenn man 20. des Monats kein Geld mehr zu Hause hat, kann sich Herr Landeshauptmann wohl denken, und gerade zu dieser Zeit bricht eine Krankheit oder sonst etwas aus, wo ich nicht mal zum Doktor gehen kann, weil man diesen im Voraus zahlen muß und von der Krankenkassa nur einen Teil nachher rückvergütet bekommt. [...] Ich bringe es von meinen Mitteln nicht zustande, denn wenn der Gehalt schon zu wenig zum Leben ist, geschweige kann ich noch dafür aufkommen und mich in Schulden stürzen die ich nie zahlen kann. Sehr gern möchte ich außer meiner Dienstzeit bis spät in die Nacht arbeiten [...] aber leider ist nirgens etwas zu finden.“[954]
Dieser Schilderung seiner alltäglichen Sorgen schließt sich eine Aufstellung seiner monatlichen Ausgaben, als Beleg für seine Angaben, an:
„Ausgaben einer Familie bestehend aus 4 Köpfen u. zw. Mann (Alleinverdienender), Frau und 2 Knaben mit 19 und 17 Jahre [...] das Oberhaupt mit einem Monatsgehalt von 1.516.000 Kronen.
Pro Monat
Miete inkl. Abgabe: 54.000 Kr.
Elektr. Licht: 16.000 ”
Gas zum kochen: 40.000 ”
2 m Holz: 360.000 ”
40 Strutz Brot à 6.100: 244.000 ”
30 bis 35 Lt. Milch à 4.200: 147.000 ”
Zahlbar jeden 1. des Monats: Summe: 861.000 Kronen
5 Kg. Fett à 28.–30.000 Kr.: 140.000 ”
6 ” Mehl à 7.000„: 42.000 ”
3 ” Reis à 16.000„: 48.000 ”
2 bis 3 Kg. Hülsenfrüchte à 16–20.000„: 60.000 ”
Kartoffel u. Gemüse pro Tag à 8.000„: 240.000 ”
4 Kg. Fleisch à 30.000„: 120.000 ”
Gewürze, Zwiebel, Essig, Soda u. dgl.: 60.000 ”
½ Kg. Kaffe Malzkaffe u. Zusatz: 100.000 ”
4 Kg. Zucker à 12–14.000 Kr.: 50.000 ”
1 bis 2 Stück Eier pro tag à 1.500 Kr.: 90.000 ”
Sonstige Kleinigkeiten Zünder u. dgl. (Besen Lumpen): 50.000 ”
Seife für Wäsche u. zum waschen: 50.000 ”
Summe: 1.050.000 Kr.
Für Abendessen noch nichts gerechnet: ???
2 Schuhdoppler à 60–70.000 Kr.: 140.000 Kr.
Zwirn Knöpfe Wolle für Strümpfe: 100.000 Kr.
Körperliche Reinigung (Haarschneiden Rasieren baden): 60.000 ”
Summe: 300.000 Kr.
Zahlbar jed. 1. des Monats: 861.000 Kr.
Lebensmittel pro Monat: 1.050.000 ”
Unbedingte Ausgaben: 300.000 ”
Summe: = 2.211.000 Kr.
Wo verbleiben Nachschaffungen für den Haushalt (Erneuerungen Ausbesserungen sowie Matratzen, Küchengeräte, Ausweissen u. bemalen der Wohnung, Nachschaffung von Wäsche, Kleider, Schuhen u.dgl.). Ferner ist ein 40jähriger Mann verdammt allen zu entsagen dass er sich nicht einmal eine Zigarette (Zigarre) und eine halbe Bier kaufen darf???
Wenn also der Gehalt 1.516.000 Kr. und die Ausgaben 2.211.000 Kr. ausmachen und ein Defizit (sic!) von 695.000 Kr. pro Monat bei nur dem allernötigsten Anschaffungen erzielt werden wie muß das Defizit in 3 bezw. 4 Jahren aussehen und auf welche Art kann diese Schuld gedeckt werden????“[955]
Erst mit der Einführung der neuen Schillingwährung, im Verein mit einer Stabilisierung der ökonomischen Situation, konnte ab 1924 der Inflation ein Ende gesetzt werden. Die Ängste und Verluste der vergangenen Jahre hatten sich aber für lange Zeit in das Kollektivgedächtnis eingegraben.
Als Anmerkung am Rande: Setzt man die obigen Preise in Relation zueinander, so ergibt sich, dass die Ausgaben für das Wohnen (inklusive Betriebskosten: 470.000,-) etwa ein Drittel des Gehaltes ausmachten, die Kosten für die – äußerst bescheidene – Nahrung mit 1.321.000, bereits fast das gesamte Gehalt beanspruchten. Wohnen und Essen überzogen das Gehalt um monatlich 275.000.- Kronen. Das heißt, ein Beamtengehalt deckte nicht einmal den lebensnotwendigen Grundbedarf einer vierköpfigen Familie. Auffällig aus heutiger Sicht ist auch, dass ein Viertelkilogramm Kaffee, gemischt mit Ersatzkaffee, preislich der Menge von 7 Kilogramm Mehl bzw. 6 Kilogramm Zucker entsprach – heute würde man in dieser Relation dafür eineinhalb Kilogramm Bohnenkaffee erhalten.
Ein anderes – ungelöstes – Problem war und blieb die Nachkriegsarbeitslosigkeit. Wenngleich die Zahl der Arbeitslosen Anfang der 1920er-Jahre wieder zurückging, so stieg sie ab 1922 wieder kontinuierlich an. Neben der allgemeinen Konjunkturlage führten vor allem die „Abbaumaßnahmen“ im öffentlichen Dienst und in Großbetrieben zu diesem Anwachsen.
Tabelle 2. Tabelle 1: Unterstützte Arbeitslose im Jänner des betreffenden Jahres im Lande Salzburg[a]
Jahr | Arbeitslose |
1918 (Dez) | 450 |
1919 (Feb) | 969 |
1920 | 954 |
1921 | 228 |
1922 | 1.679 |
1923 | 2.989 |
1924 | 2.228 |
1925 | 3.968 |
1926 | 4.609 |
1927 | 4.875 |
1928 | 4.757 |
1929 | 7.351 |
1930 | 8.930 |
1931 | 9.729 |
1932 | 12.020 |
1933 | 13.116 |
1934 | 12.639 |
1935 | 12.695 |
1936 | 11.737 |
1937 | 10.940 |
[a] Tabelle aus: [Hanisch 1988], hier S. 1071. |
Über die Zahlen der tatsächlichen Arbeitslosigkeit in der Ersten Republik sind wir nicht sehr gut informiert, da viele Menschen keinen rechtlichen Anspruch auf Unterstützung hatten. So scheinen in der Tabelle 1 nur jene gemeldeten Arbeitslosen auf, die noch nicht „ausgesteuert“ waren, d. h., die tatsächlich die eine oder andere Form staatlicher Unterstützung erhielten. Als Beispiel für diese erwähnten Abbaumaßnahmen sei hier der Arbeiterabbau in der Tabakfabrik Hallein im Jahr 1923 aufgezeigt.
Von den 599 Arbeitern der Tabakfabrik in Hallein war der Abbau von 376 Arbeitern vorgesehen. Durch die Intervention der Landesregierung und die Bemühungen des Direktors der Fabrik wurde diese Zahl auf 254 ermäßigt. In einem Bericht schildert der Polizei-Referent der Bezirkshauptmannschaft Hallein die Richtlinien für den beschlossenen Stellenabbau:
„Für den Abbau wurden folgende Richtlinien aufgestellt: Abzubauen sind:
Die nichtständigen Arbeiter. Darunter fallen auch jene, welche die Voraussetzungen für die Beschäftigung im Staate verloren haben (z. B. durch Verheiratung mit einem Ausländer). In Betracht kommen hier nur 2 Personen.
Vertragsangestellte. Diese nach Maßgabe der Notwendigkeit. Von den drei Vertragsangestellten in Hallein dürfte nur einer in Betracht kommen.
Arbeiter mit qualitativer Mindestleistung (in Hallein zirka 27).
Sämtliche Arbeiter, welche eine anrechenbare Dienstzeit von 30 Jahren haben. [...].
Arbeiter, welche noch nicht 1 Jahr in Dienstverwendung stehen. [...].
Jene Arbeitspersonen, welche über 1 Jahr aber noch nicht 2 Jahre im Dienst stehen. [...].
Arbeiter, welche andere wirtschaftliche Erhaltungsmöglichkeiten haben, also Arbeitspersonen, welche selbst oder deren nächste Angehörige einen Wirtschaftsbesitz, ein Gewerbe, oder ein Geschäft haben, wodurch ihnen eine hinreichende Existenz geboten wäre.
Jene Arbeitspersonen, die im gemeinsamen Haushalte lebende Familienangehörige eines im öffentlichen oder privaten Dienste in gesicherter Stellung stehenden Arbeitsnehmer sind. [...].
Schließlich käme noch der Abbau von Arbeiterinnen mit einer Dienstzeit unter 3 Jahren in Betracht, sofern durch den Abbau nach den vorstehenden Punkten die vorgeschriebene Ziffer [sic! Anm: gemeint ist Zahl] nicht erreicht wäre.“[956]
Wie in den Großbetrieben wurde auch in der Verwaltung selbst ein umfangreiches Stellenabbauprogramm durchgeführt, das die Ängste und Vorurteile der betroffenen Beamten und ihrer Interessenorganisationen wachrief. Den Verlust des Arbeitsplatzes vor Augen wurde schon einmal ganz offen das „Floriani-Prinzip“ [Anm.: sprichwörtliche Phrase, die die ebensolche konnotiert: „Heiliger St. Florian, schütz’ unser Haus, zünd’ andere an“.] eingefordert, wie etwa in einem Schreiben der „Tiroler Landsmannschaft“ an den Bundesrat Rehrl:
„Es ist eine altbekannte Tatsache, dass insbesondere in den Ministerien der Grossteil der Beamtenschaft nicht bodenständig ist und es scheint dann doch nicht mehr als gerechtfertigt, dass der Staat Oesterreich in erster Linie dafür Sorge trägt, dass eine bodenständige Beamtenschaft nicht ihr Brot verliert. So bedauerlich es bezeichnet werden muss, wenn auch nicht bodenständige Beamte abgebaut werden müssen, so ist es immerhin verständlicher, dass nichtbodenständige Perschen [sic! Anm: offenbar Gedankenfehler in Zusammenziehung von Personen und Menschen] ihr Brot beim Staate verlieren, als die bodenständige Beamtenschaft. [...] Seitens der gefertigten Landsmannschaft wir daher das ergebene Ersuchen gestellt, Euer Hochwohlgeboren wollen sich mit allem Nachdrucke dafür einsetzen, dass bei dem geplanten Abbau die gerechtfertigten Interessen der bodenständigen Beamtenschaft gewahrt werden. [...] [Es] müsste eventuelle nach Ansicht der Landsmannschaft ein Abbau alle jene nicht bodenständigen Beamten treffen, welche nach dem Jahre 1918 die Zuständigkeit im heutigen österr. Staate erworben haben, – in diesem Falle jedoch ohne Rücksicht auf das Alter der Beamtenschaft, damit die bodenständige Beamtenschaft entsprechend geschützt wird.“[957]
Die soziale Situation im Lande Salzburg entspannte sich etwas in der Mitte der 1920er-Jahre. Nach Ende der Inflation, dem Abschluss der Umstrukturierungsphase in der Wirtschaft und den damit verbundenen Stellenabbaumaßnahmen setzte eine leichte Konjunkturerholung ein, von der jedoch viele Menschen nicht profitieren konnten. Vor allem jene, die sich im Zuge der Hunger- und Inflationsphase verschulden mussten, wie dies etwa bei vielen öffentlich Bediensteten oder Freiberuflern der Fall war, konnten sich vielfach nicht mehr aus dieser Schuldenspirale befreien. Aus den zahlreichen Hilfsersuchen dieser Zeit sei jenes eines Lehrers aus Stuhlfelden aus dem Jahr 1926 beispielhaft zitiert:
„Die langjährige Krankheit meiner Frau, der Umstand, dass ich eine arme Förstertochter geheiratet habe, wodurch es uns versagt war, während des Krieges und nach demselben das Notwendigste nachzuschaffen, sodass es einmal sein musste, bin ich grundlos in Schulden geraten. [...] Gewiss, ich habe im März v.J. vom Lande einen Gehaltsvorschuss von 800 S erhalten, der aber zur Hälfte kaum hinreichte, sodass ich gleich wieder fortfretten musste. So musste ich oft schon am 1. eines Monats so viel zahlen, dass ich nicht auskommen konnte und gegen Ende neuerdings Geld leihen musste, daher sich die Schuldenlast vergrösserte.“[958]
Für die Versorgung der vielen Kriegsversehrten, von denen viele mit einer ungenügenden staatlichen Unterstützung ihr Leben fristen mussten, wurden immer Sammlungen durchgeführt, um den Bedürftigsten unter ihnen auf diese Weise zu einer kurzfristigen Verbesserung ihrer Situation zu helfen. Doch nicht jeder konnte helfen. Als Entschuldigungsgrund, nichts für den Kriegsopferfonds spenden zu können, führt ein „Kammervirtuos“ (Musiker) aus der Stadt Salzburg 1929 an:
„Ich bin selbst Kriegsbeschädigter mit 75 bis 100 % Erwerbsminderung. Infolge meines leidenden Zustandes mußte ich im Herbst 1928 mein Geschäft aufgeben und habe jetzt seither gar keinen Verdienst. Von der Invaliden-Entschädigungskommission erhalte ich, weil ich jetzt durch 27 Jahre fleißig und pünktlich meine Steuern bezahlt habe lt. Gesetz erst die mir zukommende Rente ab Mai 1930! Was ich bis dorthin anfange, ich weiß es nicht. Gestern reichte ich um eine Konzession ein zur Ausübung von Musik- und Gesangsreproduktionen im Lande Salzburg und beginne wieder so lang ich kann als Zithervirtuose zu reisen, um mitsamt meiner Frau nicht immer meinem Sohn zur Last zu fallen, der ohnehin erst Anfänger ist als Geschäftsmann“.[959]
Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise trafen Österreich besonders hart und wurden durch die staatliche Wirtschaftspolitik einer konsequenten Sparpolitik mit massiven Ausgabenkürzungen noch weiter verschärft. Für die Bevölkerung bedeutete die Krise eine weitere große Belastung. Gehälter wurden gekürzt, die Arbeitslosigkeit stieg dramatisch, die Aussteuerungspraxis (der Wegfall aller staatlichen Unterstützungen) wurde verschärft. Vor allem die restriktive Anwendung der Arbeitslosenunterstützung führte zu weit verbreiteten Elenderfahrungen für viele Arbeitslose und ihre Familien. Das Wort „ausgesteuert“ wurde das „Schlagwort“ einer ganzen Generation.
Über die Grundzüge der Arbeitslosenunterstützung finden wir in der berühmt gewordenen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“,[961] die im März 1933 veröffentlicht wurde, folgende Erläuterungen:
„Die Arbeitslosenunterstützung in Österreich ist durch das Gesetz vom 24. März 1920, und die 28 Novellen geregelt, die seither modifizierend hinzugetreten sind. Die Unterstützung steht in enger Verbindung mit dem Arbeitsnachweis, ihre Höhe wird nach der letzten Lohnhöhe und der Familiengröße der Unterstützten bestimmt. Die Voraussetzung für die Unterstützungsberechtigung ist der Nachweis einer zwanzigwöchigen Arbeit im abgelaufenen Jahr und der Gefährdung des Lebensunterhaltes durch den Verdienstausfall. Die Kosten der Unterstützung werden vom Arbeitgeber, Arbeitnehmer und den Gebietskörperschaften getragen. Die Dauer der Unterstützung liegt zwischen 20 und 30 Wochen. Nach Ablauf dieser Frist wird der Arbeitslose ausgesteuert und kann dann nur mehr die Notstandshilfe beziehen, die der Krisenunterstützung im Deutschen Reich entspricht. Über die Höhe entscheiden nach freiem Ermessen und nur durch Richtlinien gebunden die Industriellen Bezirkskommissionen [Anm.: paritätische Körperschaften mit öffentlichem Charakter]. Die Notstandsaushilfe beträgt etwa 80 Prozent der Arbeitslosenunterstützung. Nach 22–52 Wochen – die Dauer bestimmt die Industrielle Bezirkskommission – erlischt auch diese; der Arbeitslose ist nunmehr völlig ausgesteuert.“[962]
In den zahlreichen Hilfsersuchen und Bittbriefen dieser Zeit kamen die Ängste und Lebenswirklichkeiten hinter diesem einen Wort „ausgesteuert“ zur Sprache. In einem Ersuchen um Unterstützung eines Arbeitslosen aus Parsch heißt es 1929:
„Bis nun ist es mir bei bestem Willen nicht möglich gewesen, Arbeitsgelegenheit zu finden und bin, da ich auch auf Arbeitslosenunterstützung keinen Anspruch habe, schon bereits von meiner ganzen Habe gekommen und habe kein ganzes Paar Schuhe mehr zum Anziehen. Ich habe jetzt einen ernstlichen Vorsatz wieder ein brauchbarer Mann der menschlichen Gesellschaft zu werden und bin schon dem Fürsorgeverein ‚Unsere Rettung‘ beigetreten. Gestatte mir Euer Hochgeboren, sehr geehrter Herr Landeshauptmann die aufrichtigste Bitte zu unterbreiten, mir eine Unterstützung gütigst zuwenden zu wollen und zugleich für die bereits meinem Kinde erwiesenen Wohltaten meinen aufrichtigsten und ergebensten Dank entgegenzunehmen.“ (Vermerk auf Rückseite: „30 S Unterstützung ausgefolgt“).[963]
Sowohl Arbeiter als auch Gewerbetreibende wandten sich an den Landeshauptmann, wie etwa ein Kunsthändler aus der Stadt Salzburg, der den Landeshauptmann ersuchte, ihm einige Bilder abzukaufen und der ausführte:
„Ich habe verschiedene dringende Zahlungen und kann meinen Verpflichtungen nicht nachkommen. Ich musste mir wiederholt Bankgelder aufnehmen um nur meinen bescheidenen Haushalt aufrecht erhalten zu können. Meine vier braven Kinder von denen ein Sohn in Wien Medizin studiert kosten mich bei der größten Bescheidenheit viel Geld. Das Kunstgeschäft liegt derart darnieder, dass ich mein Lager nur anschauen aber nicht umsetzen kann.“[964]
Die angespannte Arbeitsmarktlage machte sich mit zahlreichen Stelleninterventionen und Stellengesuchen bemerkbar. Wo immer möglich wurde versucht, mittels Beziehungen den Arbeitsplatz zu halten oder, wo der Verlust desselben absehbar war, einen anderen zu finden. So lesen wir in dem Schreiben eines Angestellten aus der Stadt Salzburg an seinen Bruder, einen Linzer Professor, die Bitte, ihn bei seinem Versuch, einen Posten in der Landeshypothekenanstalt zu erhalten, zu unterstützen:
„Vor allem herzlichen Dank für gesandte Sachen. Besonders die Wurst hat den Kindern sehr gut geschmeckt. Muss dir mitteilen, dass ich vor kurzem dem Landeshauptmann persönlich geschrieben habe, wenn einmal etwas frei werden sollte, denn jetzt kommt die Zeit, wo ich vor der Entlassung stehe. Musst bedenken, dass die anderen schon alle am 1/X. entlassen wurden, bis auf die 4 Ältesten und wir werden am 21/XI. entlassen. Es gibt eben in Privat überhaupt keine Arbeitsgelegenheit mehr um diese Zeit. Vielleicht könntest du der Sache betreff eines Postens nachgehen.“[965]
Als erste Anlaufstelle in sozialer Notlage waren gesetzlich die Gemeinden vorgesehen. Doch die veraltete Sozialgesetzgebung im Sinne eines die Gemeinde betreffenden Armenrechtes wurde den Gegebenheiten einer Massenverarmung ganzer Bevölkerungsschichten nicht mehr gerecht. Da Hilfsbedürftige stets an ihre Heimatgemeinde verwiesen wurden, sahen sich bald viele Gemeinden nicht mehr in der Lage, den Hilfesuchenden die ihnen gesetzlich zustehende Hilfe zu geben. Die Folge waren Willkür und Verbitterung, verbunden mit einem Hin- und Herschieben von Zuständigkeiten auf dem Rücken von Hilfsbedürftigen. Die Gemeinden waren überfordert, die Bedürftigen fühlten sich im Stich gelassen. So schildert der Gemeindesekretär von Oberndorf (Vorschlag eine Landeserziehungsanstalt zu gründen, um die Gemeinden zu entlasten) die Situation aus Sicht der Gemeinde:
„Schon vor Kriegszeit beschäftigte ich mich mit Kinder- und Jugendfürsorge, Erziehung und Unterbringung von Kindern jener Eltern die in Folge unverschuldeter Weise und solche durch Verschulden der Eltern (Arbeitsunlust, Alkoholismus) ihre Kinder vernachlässigten und daher der Gemeinde zur Versorgung anheimfielen. Hochverehrtester Herr Landeshauptmann, wenn Sie dieses Elend diese Not dieser Kinder, deren Krankheiten (Tuberkulose) schlechte Verpflegung, ungesunde Unterkünfte aus unmittelbarer Nähe, wie ich es seit Jahrzehnten in der Gemeinde und auch der übrigen Gemeinden beobachten Gelegenheit hatte, kennen würden, so wäre sicher Ihr Ausruf: ‚Ja! gibt es den heute bei den vielen sozialen Einrichtungen, noch solche Vernachlässigungen in einem demokratischen Staate?’ Ja, zur Genüge. [...] Die vielen sozialen Lasten der Gemeinden, die noch von den vorgesetzten Behörden, den Gemeinden aufgetragen werden, weil es überall heisst: ‚ja, da gehen sie zur Gemeinde, diese ist gesetzlich verpflichtet für sie bezew. [sic!] Ihre Kinder zu sorgen’. Dieser der Bevölkerung seit Jahrzehnten von gewisser Seite suggerierte Tatbestand ist es der den Gemeinden, die unerhört hohen Armenlasten gebracht hat und noch bringt. Heute sind es nicht mehr allein die alten Leute, sondern fast ausschliesslich die Jugend schon von Kindesalter und später im Jünglingsalter an, die an die Gemeinde ihre Ansprüche unter Hinweis auf diese gesetzliche Verpflichtung, stellen. In ziemlich genauer Kenntnis der finanziellen Verhältnisse der Gemeinden muss ich sagen: bis-her [sic!] ist diese Last möglich gewesen nun aber ist es zuviel, es kann und darf nicht mehr so weiter gehen. Ein weiteres Übel ist, dass nicht nur Armen, sondern auch schon Leute mit kleinem Besitz oder Geschäft, die Zahlungen für Krankheit, Arzt, Medikamente, Spitalspflege, Operation, nicht mehr zahlen können und daher gezwungen sind, sich diese Kosten von der Gemeinde bestreiten zu lassen“.[966]
Besonders schlimm wirkte sich die Wirtschaftskrise auf die soziale Lage der Schwächsten aus. Alte Menschen, Kranke, Menschen ohne familiäre Bindungen vor Ort waren vielfach auf das Betteln angewiesen. So ersuchte eine 83-jährige Hauptmannswitwe aus der Stadt Salzburg um Unterstützung:
„[...] so dass ich von einer Summe von 55 S pro Monat kärglich leben muss, was ich besonders jetzt in meiner Krankheit recht bitter empfinde. Ich kann mir weder einen Arzt zahlen, noch die nötigen Arzneimittel beschaffen. Alle meine Bekannten, die mir ab und zu etwas zukommen liessen, habe ich bereits durch Tod verloren, daher befinde ich mich oft in einer derartigen Notlage, dass ich mir nicht einmal die nötigsten Lebensmittel verschaffen kann. Die Folge davon ist, dass auch mein Zustand sich nicht bessert, sondern ich immer schwächer werde. Darum bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Landeshauptmann, sich meiner Not zu erbarmen und mir eine monatliche Unterstützung gütigst gewähren zu wollen“. (Spende von 20 S überwiesen)[967]
Auch auf dem Lande war dieselbe Not spürbar. Besonders zu spüren bekamen sie auch dort die Alten. So suchte eine 73-jährige Bewohnerin des Armenheimes in Mauerndorf um Unterstützung an:
„Unterfertigte [...], vollkommen arbeitsunfähig, bittet inständig um eine, wenn auch noch so kleine monatliche Gnadengabe. Selbe hat einen Sohn der ein halber Krüppel ist, dabei seit langem arbeitslos ist und ausserdem Frau und 3 kleine Kinder hat. Der andere Sohn ist Aushilfsbriefträger und hat von seinem Gehalt von 150 S per Monat auch für Frau und Kind zu sorgen. Die Tochter ist bei einem Bauern als Dirn und hat nur was sie braucht. So dass keines ihrer Kinder in der Lage ist die Mutter zu unterstützen. Sie fristet ihren Unterhalt durch kleine Botengänge und von der Mildtätigkeit. Sie wäre für die kleinste Zuwendung von ganzem Herzen dankbar und einer grossen Sorge ledig.“ (30 S Spende. Eine monatliche Unterstützung mangels Mittel nicht möglich).[968]
Nicht nur die Industriegebiete wurden von der Krise getroffen. Auch die landwirtschaftlichen Gebiete Salzburgs bekamen sie zu spüren. Preisverfall und hohe Verschuldung führten zu massenhaften Zwangsversteigerungen von landwirtschaftlichen Betrieben. So lesen wir in einem Schreiben aus dem Jahr 1932:
„In meinem Beruf als Zuchtbullenführer welchen ich bereits das 5. Jahr tätig bin, hatte ich Gelegenheit die wirtschaftliche Lage der Landwirtschaft aufs beste zu verfolgen. Ich muss daher mit der dringenden Bitte an hochw. Landeshauptmann herantreten den Untergang der Landwirtschaft zu schützen. Es wäre ja unnütz mit einem langen Schreiben die heutigen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse zu schildern da ja die Not der Bauern, Herrn Landeshauptmann ohnedies bekannt genug ist. Ich möchte nur sagen, jetzt wo der Gebirgsbauer seinen Vorrat, das heist seine Produkte an Getreide bereits aufgebraucht hat, und viele ja ohnedies Mehl und Brot die meiste Zeit kaufen müssen, die Notlage der Bauern erst bemerkbar machen wird, und sie auch nicht mehr im Stande sind ihre Dienstboten zu halten sondern auch die nötigsten Arbeitskräfte abstellen müssen. Der größte und beste Beweis des Geldmangel [sic!] bei der Bauernschaft beweisen die Verpfändungen von denen man schon fast alltäglich hören kann.“[969]
Die unzureichende Wirtschaftspolitik und die nicht enden wollende ökonomische Krise führten in der Folge zu einem weiteren Vertrauensverlust in die Politik, vor allem in die politischen Parteien, der diesmal jedoch bis weit in die Kernschichten der Christlichsozialen Partei hineinreichte. Beispielhaft das Ersuchen aus dem Oberpinzgau im Dezember 1930, das vor der zunehmenden Begeisterung der Bevölkerung für den Nationalsozialismus warnt:
„Das Ersuchen, die Bewilligung um eine Vorsprache bei Herrn Landeshauptmann zu erwirken, um in zwangloser Besprechung die tristen wirtschaftlichen Verhältnisse dieses Landesteiles darlegen zu dürfen. Wenngleich ich ja genau weiss, dass Herr Landeshauptmann im Augenblick nichts für die Besserung tun können und aus eigener Anschauung die Notwendigkeiten kennen u. vertreten, so möchte ich doch bitten, diesem Ansuchen zu willfahren, da hier absolut fleissige, strebsame Leute beisammen sind, die zu jeder anderen Führung als zu ihrer Person das Vertrauen sozusagen verloren haben. Nebenbei sieht man hier die Nationalsozialistische Bewegung zur Lawine anwachsen und gerade die guten Elemente des Gaues lassen sich von dieser radikalen Idee mitreissen. Auch ich für meine Person sage rundheraus, dass ich anderen sog. Führern u. Vertretern einfach nicht mehr glauben kann.“ (Rehrl gewährt Besprechung)[970]
Und in ähnlicher Alarmstimmung forderte der Obmann der Christlichsozialen Ortsgruppe in St. Martin bei Lofer in einem Schreiben an Rehrl:
„[...] der Bundesregierung nahe zu legen, in aller kürzester Zeit Mittel und Wege zu finden, den Mittelstand zu retten. Es muss mit Schärfe verlangt werden eine umgehende Herabsetzung des hohen Zinsflusses, Zuschreibung der rückständigen Zinsen, welche nicht mehr gezahlt werden können; Regelung der Steuer, der Feuerversicherungsprämien, sowie stabiler Wert des Grund und Bodens. Unsere Raiffeisenkasse steht vor dem Ruine. Die Einleger erhalten kein Geld heraus, da der Schuldner keine Rückzahlung und Zinsen bestreiten kann. Es bestehen Bauernfamilien wo keine zwei Schillinge Bargeld im Hause sind. Es ist nicht geholfen wenn einmal 50–60 kg Getreide gratis gegeben wird da ja doch indirekt wieder jeder einzelne zahlt.“[971]
Um die zahlreichen Arbeitslosen wenigstens mit einer Mahlzeit am Tag verpflegen zu können, entstanden in den größeren Städten und Gemeinden so genannte Ausspeisungen. Meist in privater Initiative geschaffen, oft mit Unterstützung der Kommunen, wurde hier eine Mindestversorgung angeboten, die für zahlreiche Menschen überlebensnotwendig war. In diesen Notzeiten galten auch drastische Vorschläge schnell als praktikabel, wie der Vorschlag des Kaplans der Landesheilanstalt Maxglan zeigt:
„Der Herbst und Winter wird arge Not bringen; aus dem Grunde kommt mir vor, wäre auch zu erwägen, ob es nicht angebracht wäre, von den vielen Abfällen, die sonst vielfach glatt zu den Schweinen kommen – was kommt nicht alles von den Abteilungen zurück! – an Arme zu verteilen gegen Karten der Landesregierung im Spital und bei uns. [...] Wenn die armen Klöster das tun können, dann auch die armen Anstalten; nur Abfälle kämen in Betracht, die aus den Abteilungen zurückkommen und sodann in den Schweinestall wandern, wofür sie in Zeiten der Not zu gut sind. [...] Nur nicht zu viel Karten auf einmal ausgeben, mehr an Zuverlässigere. Ich dächte da auch an die Zuweisung von 5 Karten je vielleicht an die armen Dienstmädchen von St. Peter, Marianum, Dienstbotenheim, weil diese nicht so betteln gehen können wie andere und leider sind solche Heime übervoll.“[972]
Im Antwortschreiben Rehrls an den Kaplan bemerkte dieser: „Lieber Freund! Für Deine Anregung betreffend der Armenspeisung danke ich Dir bestens und teile Dir mit, dass ich eine ähnliche Aktion für die Wintermonate bereits erwogen habe. Ich werde Deine Anregung gerne aufgreifen und nach Fühlungnahme mit der Anstaltsleitung die Sache in die Wege leiten.“[973]
Von größerer Bedeutung als diese gut gemeinte Resteverwertung waren jedoch die eigentlichen Bedürftigenküchen. So war als Nachfolgerin der so genannten „Amerikanischen Mittelstandshilfe“ (US-amerikanische Hilfsorganisation die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren soziale Hilfe leistete) in den vom Stadtmagistrat unentgeltlich überlassenen Räumen der Schrannengasse 7 die so genannte „Mittelstandsküche“ entstanden. Ihre Bedeutung lag in der Möglichkeit, für eine vergleichsweise geringe Summe eine warme Mahlzeit am Tag zu erhalten. Über die Preise lesen wir:
„Die Mittelstandsküche wird von 80 bis 100 Personen besucht. Darunter sind sehr viele Kleinrentner, denen diese Küche die einzige Lebensmöglichkeit bedeutet. Die Küche arbeitet mit den geringsten Regien und hat mit der Leiterin nur drei Angestellte. Die Preise sind auch auf der niedrigsten Stufe gehalten und wird für das dreiteilige Mittagessen von Kleinrentnern 70 Groschen eingehoben. Von anderen Teilnehmern u.zw. von solchen, die sich das Essen abholen 80 Groschen, von jenen, die dort essen, 90 Groschen. Die Küche ist die einzige derartige Wohlfahrtseinrichtung in der Stadt Salzburg.“[974]
Über das Essen bei derartigen Ausspeiseaktionen dürfen wir uns wenig Illusionen machen. Eine Vorstellung von der Qualität der Speisen gibt uns ein Schreiben des Obmannes der „Ortsgruppe Salzburg der christlichen Bau-, Stein- und Holzarbeiter“:
„Über diese Aktion wird in den Zeitungen herumgeschrieben und meist nur das Gute betont. So müssen wir auf den Artikel vom 7. Dezember 1932 hinweisen, indem das verausgabte Essen als delikat hingestellt wird. Ich persönlich bin gewiss keiner der immer murrt und kritisiert und habe bisher das Vorgesetzte immer noch gegessen. Doch das [...] Gutachten müssen wir ablehnen. Dass [Anm. der Verfasser] ein Gemsenfreund ist, dafür können die Arbeitslosen nicht, noch dazu, wo das Gemsenfleisch einen derart starken Wildgeruch hatte, dass diejenigen, die noch kein Wild gegessen haben, wirklich annehmen mussten, dass das Fleisch schlecht und verdorben war. Auch die reichliche Mahlzeit lässt zu wünschen übrig und ist eine genügende Verabreichung nur der Fall, wenn [...] jemand von der Regierung zur Inspektion erscheint. Man müsste hier doch unterscheiden, wer gut erhalten ist und solchen, die ausgehungert sind. Es darf niemand denken, dass es ein Vergnügen ist, in die Ausspeisung zu gehen [...]. Jetzt in dieser kalten Jahreszeit müssen die Leute mit ungenügender Bekleidung eine halbe Stunde, dreiviertel Stunden sich anstellen um das Essen.“[975]
Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit überforderte die Möglichkeiten zur Selbsthilfe. So konnten etwa die Berufsvereinigungen und Handwerksorganisationen nicht mehr ausreichend Mittel zur Unterstützung ihrer Mitglieder aufbringen, so dass sie sich in ihrer Not an die öffentliche Hand wandten. Im nachfolgenden Fall wandte sich der Sekretär einer nicht näher bezeichneten Arbeitergruppe an den Landeshauptmann, mit dem Ersuchen um eine Spende für Arbeitslosenunterstützung:
„Der Umstand, dass die Arbeitslosigkeit im Laufe des Winters unsere Organisation ausserordentlich schwer in Mitleidenschaft gebracht hat und unser Unterstützungsfonds zur Gänze aufgezehrt wurde, veranlasst mich, Sie neuerdings mit der Bitte zu belästigen, nach Möglichkeit uns nochmals mit einem Unterstützungsbeitrag bedenken zu wollen. Von den 430 Mitgliedern in unserer Arbeitergruppe sind derzeit nicht weniger als 175 arbeitslos.“[976]
In der Krise erwiesen sich die sozialen Grundsicherungssysteme als sehr lückenhaft und in Anbetracht der wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage, derart vielen Not leidenden Menschen eine ausreichende Hilfe zu gewährleisten. Den Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre erlebten viele Menschen in purer Verzweiflung, die sich in den Aufrufen und Publikationen dieser Zeit widerspiegeln. So heißt es etwa in dem Aufruf „Helft den Arbeitslosen“ der „Zentralkommission der christlichen Gewerkschaften Österreichs“:
„Mehr als 300.000 Arbeiter und Angestellte essen das karge Brot der Arbeitslosenfürsorge. Weitere 60.000 Arbeiter und Angestellte in Industrie und Gewerbe beziehen keine Unterstützung. Dazu kommen noch Tausende von Forstarbeitern, Hausgehilfinnen usw., die in die Arbeitslosenversicherung nicht einbezogen sind und auch keine Fürsorge genießen. Diese wenigen Zahlen geben ein Bild furchtbaren Elends. Ist schon die Arbeitslosenunterstützung ungenügend, um auch nur die bescheidensten Lebensbedürfnisse zu decken, so wächst die Not ins Riesengroße bei jenen Arbeitslosen, die für eine zahlreiche Familie zu sorgen haben und auch die karge Unterstützung nicht erhalten.“[977]
Auch Handwerkermeister blieben von den Folgen der Arbeitslosigkeit nicht verschont. Verzweiflung machte sich breit, wie sie sich in den Zeilen eines Elektromeisters aus der Stadt Salzburg niederschlägt:
„Ich war bis Dezember 1930 zuletzt in Luxemburg in Meisterstellung, dann erfolgte dort eine allgemeine Ausweisung der Ausländer, ich wurde hierdurch auch arbeitslos, kam nach erfolglosen Bemühungen um Arbeit im Jänner 1931 nach Großgmain bezw. [sic!] Salzburg um die Arbeitslosenunterstützung anzusuchen, jedoch wurde mir diese aus dem Grunde, weil ich im Auslande beschäftigt war [...] nicht gegeben. [...] inzwischen führe ich ein Hungerleben, weil was ich auch aus Selbsthilfe um einen Verdienst unternommen habe, nicht fürs einfache tägliche Brot reicht: Suppe und wieder Bettelsuppe, wie kann da ein Mann mit 34 Jahren für die Dauer bestehen. Ich bin heute unterernährt, magenleidend und seelisch krank, durch die unzulängliche Unterstützung. [...] Was habe ich verschuldet? Mein Vorleben, Leumund ist unbescholten. Dass ich so furchtbare Not leiden muss und einer Bauerngemeinde zur Last fallen muss als Bettler? [...] Ich will endlich Arbeit und kein Almosen, eine Existenz“.[978]
Als Antwort konnten die meisten Hilfesuchenden nicht mehr als eine Spende von 10 Schilling Hilfe und die Mitteilung erwarten, dass es eine amtsmäßige Behandlung ihres Hilfsersuchens geben werde, „um Ihnen allenfalls im Rahmen der Möglichkeit irgendeine Hilfe angedeihen zu lassen“. Unter den Bedingungen dieser Zeit hieß das, es ist keine Hilfe möglich. Doch selbst für diese geringen Spenden mussten die Hilfesuchenden in Kauf nehmen, dass sie im Auftrag des Präsidialbüros des Landeshauptmannes durch die Polizeidirektion Salzburg auf ihre tatsächliche Unterstützungswürdigkeit hin observiert wurden. Hierzu erging die Anweisung an die Polizeidirektion, „die genauen Erwerbs- und Familienverhältnisse sowie die Berücksichtigungswürdigkeit und Unterstützungsbedürftigkeit umgehend vertraulich erheben und hieher bekannt geben zu wollen“.[979]
Das massenhafte Elend dieser Jahre spiegelt sich in zahlreichen Hilfsersuchen wider – wie etwa jenem einer Mutter mit Kindern aus Hallein, die 1933 um Hilfe bei der Erlangung einer Arbeitslosenunterstützung bittet:
„Herr Landeshauptmann durch diese wirtschaftliche Lage musste ich mich scheiden lassen. Ich stehe mit 2 Kindern ganz und gar mittellos da habe jetzt einstweilen pro Woche von Gemeinde um 7 S 50 g Lebensmittel mein Mann gibt mir fürs Kind 5 S Alimente wöchentlich, mehr kann er nicht leisten da er nur die Notstandsunterstützung und für 2 aussereheliche Kinder zu sorgen hat. Herr Landeshauptmann ich pakte [sic!] jede Arbeit an und scheute vor nichts zurück. Der Saisonverdienst heuer versagte durch diese politische Wirtschaft ‚Grenzsperre‘. [...] Bin meiner Milchfrau schon 7 Wochen Milch schuldig bei Fa. Weger bin 22 S Gemüse und Kartoffel schuldig. Meine Kinder Melanie und Alfonsa haben keinen warmen Mantel kein Kind warme Unterwäsche noch Strümpfe und keine Schuhe. Melanie muss von Schule fern halten und Alfonsa von der Kleinkinderbewahranstalt obwohl sie ein Talent hätten ich kann die Kinder doch nicht frieren lassen. Herr Landeshauptmann ersehen das in bitterster Notlage bin und ersuche untertänigst um Hilfe das ehestens meine Zahlungen leisten kann sonst bekomme ich ja nichts mehr.“[980]
Selbst wo eine Behörde einmal eine größere Summe an Hilfszahlungen gewährte, bedeutete dies lange noch nicht eine dauerhafte Entlastung, wie dem Hilfsersuchen eines kranken Hutmachers aus der Stadt Salzburg zu entnehmen ist:
„Herr Landeshauptmann, was soll meine Frau nun tun, sie bekommt keinen Groschen, nur für sich das Essen in der Notstandsküche, davon soll sie auch die zwei Kinder ernähren. Da es kein Frühstück gibt, bekommen auch die Kinder nie ein Frühstück. Von was soll sie Brennmaterial beschaffen? Was soll weiter geschehen wenn man ihr nichts gibt. Man hat den Vorschuss, den wir erhielten, dem Fürsorgeamt eigenmächtig auf einmal in Abzug gebracht, so dass wir nun auf Monate hinaus gar keinen Groschen erhalten. Ich liege auf dem Krankenlager und kann meiner Familie auch nicht helfen. Ich bitte Sie nun Herr Landeshauptmann für meine Familie einzutreten und dringenst für Hilfe einzuschreiten. Wenn man schon auf dem Fürsorgeamt so wenig Einsicht hat, dass der Mensch von gar nichts einfach nicht leben kann.“[981]
Zu den offensichtlichen Sorgen und Nöten der Arbeitslosen kamen weitere, weniger offensichtliche. So änderte sich etwa die Zusammensetzung der Ernährung. So wurde am meisten an Fleisch, Eiern, Gemüse und Obst gespart. Die häufigsten Lebensmittel zum Frühstück und Abendessen waren Kaffee und Schwarzbrot.[982] Aber auch psychologisch bedeuteten die Arbeitslosigkeit und der damit einhergehende Verzicht auf die meisten gesellschaftlichen Aktivitäten eine Belastung. Ebenso forderte die bürokratische Behandlung ihren Tribut und konnte tief in familiäre Strukturen hineinreichen, wie sie in einer Zuschrift eines Aktivisten eines „Arbeitslosen-Aktionskomitees“ an die Redaktion von Salzburger Zeitungen, hier des „Salzburger Volksblattes“, beschrieben werden:
„Provozierend auf die Arbeitslosen wirkt die Ueberprüfungsfrage. Jeder der nur einmal die Notstandsunterstützung verlängert erhielt, weis, welcher Leidensweg es ist, bis die Verlängerung bewilligt wird – wochenlang dauern die Erhebungen. Genauestens wird erforscht, ob nicht ein Verwandter zu finden ist, welcher die Sorge übernehmen könnte – gar mancher Familienzwist entsteht daraus. Auf jeden Fall, wer die grüne Karte ein zweitesmal erhielt, dessen Notlage war ganz gewiß erwiesen, zu was also eine lange Ueberprüfung. [...] Väter mit mehr als 70 Jahren mit kleinen Pensionen wurden verpflichtet, ihre erwachsenen Söhne und Töchter zu erhalten, darunter Menschen mit mehr als 30 Jahren. Söhne und Töchter wurden aufgefordert ihre Eltern zu klagen. Wenn es gar kein Mittel gab, wurde dem Bittsteller von seiner Heimatgemeinde gnadenweise gestattet, einmal von Haus zu Haus bitten zu gehen.“[983]
Als Anmerkung am Rande: Diese Form des gestatteten einmaligen Bettelns geht auf die Jahrhunderte lange Armenversorgung durch die Landgemeinden zurück. Als Gemeindearme anerkannte Personen wurden über bestimmte Zeiträume den Gemeindemitgliedern als „Einleger“ zur Versorgung zugewiesen und erhielten periodisch das Recht, in der Gemeinde betteln zu gehen.
Immer wieder wurde in Hilfsersuchen um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von Seiten der öffentlichen Hand gebeten, um die ärgste Not zu lindern. Da die Privatwirtschaft offensichtlich nicht ausreichende Arbeitsplätze zur Verfügung stellen konnte, sahen die Menschen ihre einzige Hoffnung in staatlichem Handeln. Der Tenor dieser Hoffnungen wird in dem Schreiben eines arbeitslosen Bergarbeiters aus Bramberg exemplarisch wiedergegeben:
„Gefertigter [...] Bergarbeiter ledig, für 1 Kind und eine alte Mutter zu sorgen. Bin vor 2 Jahren ausgesteuert worden, und seither arbeitslos. Mein Kollege [...] verheiratet, ohne jeden Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, auch 2 Jahre arbeitslos. Wir erhalten von der Gemeinde eine Arbeitslosenunterstützung folgendermassen: Erhalten mittels Schein um 2,50 S Lebensmittel auf Rechnung der Gemeinde beim Kaufmann. Mir wurde am Arbeitsamt Zell am See erklärt, Sie sind ausgesteuert haben keinen Anspruch auf Arbeitszuweisung, obwohl ich früher immer in Bergwerken und als Industriearbeiter beschäftigt war. [...] Es sind in Bramberg noch viele arme notleidende Menschen, wir bitten auch für diese, nicht nur für uns [...] Es sind hier meistens landwirtschaftliche Arbeiter die von den Bauern abgeschoben werden, und daher angewiesen sind auf die Armenunterstützung von 2,50 in der Woche zu holen. Mit was soll man Mietzins bezahlen, und sich kleiden, und die anderen Auslagen begleichen. [...] Diese armen, einst tüchtig ehrlich schaffenden Menschen sind gezwungen auf die Strasse zu wandern, um die paar Groschen was man noch erhält, sich den Hunger zu stillen. [...] Alle diese Armen, sind nicht in der Lage weiter zu leben, haben auch keine Kleidung und Schuhe bald mehr. Geld haben wir das ganze Jahr keins, weil man nie Verdienst hat. Es geht doch nicht an solche Unterschiede im Volk zu machen. Auch wir haben das Recht zu leben. Herr Landeshauptmann! Wir ersuchen Sie bittend uns endlich dieses Los zu erleichtern und uns auch wieder zu Arbeit und Verdienst zu führen.“[984]
Die Salzburger Landesregierung versuchte im Rahmen der engen finanziellen Möglichkeiten des Landes, mit verschiedenen Straßen- und Wasserbauprojekten (Großglockner-Hochalpenstraße, Ronachweg, Glanregulierung) Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Doch blieb die Zahl der tatsächlichen (temporären) Arbeitsplätze weit hinter den tatsächlich erforderlichen zurück. Dennoch richtete sich die Hoffnung vieler Arbeitsloser sowie auch von Gewerbetreibenden auf diese Bauprojekte. Noch vor dem endgültigen Feststehen der jeweiligen Bauprojekte trafen bereits die ersten Bittgesuche bei der Landesregierung ein, wie etwa das eines Tischlers und Sägewerksbesitzers aus Hollersbach:
„In der gestrigen ‚Salzburger Chronik‘ ist die Inangriffnahme der Gerlosstraße wieder in Aussicht gestellt. Mit ungläubiger Freude lesen wir davon, denn schon vor zwei Jahren hatten wir mit [Anm.: der Baufirma] Redlich u. Berger einen Vertrag auf Barakenlieferungen [sic!] zu diesem Bau abgeschlossen. Dann aber kam das große Verhängnis über uns und liess niemand in der ganzen Verwandtschaft unberührt. Nun sollen die Zahlungen für den Ankauf der Tischlerei beginnen und es ist kein Geld da, denn seit zwei Jahren stehen die Maschinen und auf dem Werkplatz wächst Gras. Und die Not nimmt grausige Formen an und zerspaltet uns weiter und es zeigt sich nirgends ein Lichtblick [...] es bekommt niemand von uns Arbeitslosenunterstützung, sondern es heisst: Friss, Vogl, oder stirb. Und auf und ab ist nichts von Arbeit zu finden. Auch als Tagelöhner kann man sich nicht verdingen, weil man nicht gebraucht wird. Es sind Kinder da, denen man über das Schwerste hinweghelfen möchte, die Aelteren sind schon alle hoch in den sechzigern [sic!] und ihre Kräfte lassen nach. [...] Wir sind Ihnen für jeden griff Arbeit dankbar, den Sie uns heute vermitteln können. Denn wendet sich das Blatt nicht in letzter Stunde, so geht alles unter. Und jetzt bitten wir, bei Vergebung dieser Arbeiten uns nicht ganz übergehen zu wollen, es geht nicht um uns allein, sondern es geht um die zahlreichen armen Teufeln, die uns täglich um Arbeit bestürmen und die uns jahrelang treu gedient haben und fast schon alle ausgesteuert sind oder überhaupt in keiner Unterstützung stehen. [...] Es käme vieles wieder in Ordnung, hier in der obersten Ecke unseres schönen Landes, könnten wir wieder ein bescheidenes Banner der Arbeit aufpflanzen und der Zuversicht. Wir haben gelernt, vieles haben wir lernen müssen! Und alle mit uns“.[985]
Die gewaltsame Beseitigung der demokratischen Republik brachte auch für die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffenen Bevölkerungsteile einschneidende Veränderungen mit sich. Hatten sich die demokratisch gewählten Institutionen und ihre Mandatare noch um ein Mindestmaß an sozialer Absicherung bemüht, so zog sich der autoritäre Ständestaat, unter geänderten wirtschaftspolitischen Prämissen (Budgetsanierung, Aufrüstungspolitik), immer mehr aus der staatlichen Risikoabsicherung durch Sozialpolitik zurück und verlagerte die Probleme der Existenzsicherung zunehmend auf die private Ebene. Immer häufiger wurden der Arbeitslosenunterstützung und vor allem der Notstandsaushilfe das Versicherungsprinzip entzogen, d. h., der Anspruch auf Leistungen ergab sich nicht mehr durch bloße Beitragszahlungen. In diesem Punkt trafen sich die Intentionen der staatlichen Sparpolitik mit den ideologischen Vorstellungen, die eine Aufwertung des traditionellen Familienverbandes propagierten. Eine der Folgen war die zunehmende Verdrängung von Frauen aus dem Berufsleben. So wurden Frauen im Staatsdienst „abgebaut“, wenn der Ehemann in einem aktiven Beschäftigungsverhältnis mit Pensionsberechtigung stand. Damit einher ging die Forderung katholischer Frauenverbände, dass Frauen, deren wirtschaftliche Versorgung anderweitig gesichert sei „und die einen wichtigen Wirkungskreis in ihren Familien zu erfüllen haben“, ihre Arbeitsplätze aufgeben sollten.[986]
Auch der vom „Ständestaat“ betriebene Ausbau des Arbeitsdienstes und das staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramm beschränkten sich auf Notstandsmaßnahmen und blieben weit hinter den tatsächlichen Erfordernissen zurück. Es kam zu keinen produktiven Industrieinvestitionen, so dass ihre geringe Beschäftigungswirkung schnell verpuffte und nur noch als propagandistisches Mittel eingesetzt wurde.[987] Schließlich änderte sich auch nichts an der Pauperisierung (Verarmung) der christlichsozialen Kernschichten wie den Beamten und den Bauern, so dass die von der Regimepropaganda verkündeten „Erfolge“ als hohle Phrase erschienen.
Obwohl der Ständestaat vorgeblich der Landwirtschaft seine besondere Aufmerksamkeit widmete, litt auch dieser Not. In einer vom Salzburger Landeskulturrat an den Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg (1897–1977) versendeten Denkschrift über die Notlage der Salzburger Bauernschaft wird festgehalten, dass die fortgesetzte Verarmung des Bauernstandes schon Besorgnis erregende Formen angenommen habe und vollends in den Gebirgsgegenden die längst bestehende Entsiedelungsgefahr größer und ernster geworden sei als je.[988]
Blieb die Not noch lange Zeit die gleiche, so änderte sich zumindest der Ton in den Hilfsersuchen. Nicht die Hilfsbedürftigkeit alleine galt als Argument für eine erbetene Hilfe. Zunehmend wurden politische Willfährigkeit und Gehorsamkeitsbekundung gegenüber dem Regime des Ständestaates bekundet. Mitgliedschaft in „vaterländischen“ Organisationen oder der Heimwehr[989] galt nunmehr als gleichwertiges Argument: So schrieb ein Hilfsarbeiter aus Ramingstein:
„[...] so denke ich in dieser Not wieder an Sie, unser lieber Herr Landeshauptmann [...] und ich bitte Sie tief im Herzen helfen Sie mir und meiner Familie, vielleicht können doch Sie mir eine schriftliche Berechtigung auf eine Bach- oder Strassenarbeit in die Hände geben, dass ich einmal an keinen Widerstand stosse. [...] auch bin ich ja seit einiger Zeit schon Mitglied der Vaterländischen Front.[990] O möge doch der barmherzige Gott unseren führenden Männern Ihre Werke segnen, auf dass doch auch für das arme Volk Oesterreichs wieder einmal die Sonne des Friedens und Wohlstandes scheine.“[991]
Politische Interventionen, Mitgliedschaften in Verbänden und Organisationen gewannen an Bedeutung für die Erlangung eines gesicherten Einkommens. Auch für die, von der unmittelbaren Armut verschonten bürgerlichen Schichten war die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit stets präsent und ein Grund, jede Gelegenheit zu nutzen, um eine sichere Stellung zu finden. Neben der Furcht vor Existenznot kam hier nicht der Aspekt der sozialen Standeswahrung hinzu, wie aus dem Schreiben eines Arztes hervorgeht, in dem er die Gründe für den Verzicht auf eine Bewerbung für eine Sprengelarztstelle erläutert:
„[...] ein Arzt, der heute nicht sehr sparsam zu leben versteht, gerät leicht in Schulden und schädigt nicht nur sich selbst, sondern auch das Ansehen des Aerztestandes. Bis jetzt habe ich mich auf Grund sehr sparsamer Lebensführung über Wasser gehalten und möchte natürlich in der jetzigen Zeit der Geldknappheit nicht in Schulden kommen“.[992]
Entgegen der offiziellen Propaganda gelang es dem Ständestaat-Regime nicht, die Arbeitslosigkeit entscheidend zu reduzieren. Eine Denkschrift der (regimeloyalen) „Kammer für Arbeiter und Angestellte“ vom März 1936 zeigt die wenig geschminkten Realitäten:
„Im Jahr 1935 wurden bei den Arbeitsämtern des Landes Salzburg insgesamt 1.568 Personen vom Bezuge der Notstandsaushilfe ausgeschlossen, wovon 830 Personen aus dem Titel ‚n.l.B.‘ [Anm.: nicht länger beschäftigt = endgültige Aussteuerung] ausgeschieden wurden. Hierzu muss aufgezeigt werden, dass am 31. Dezember 1935 der Stand der bei den Arbeitsämtern Salzburgs gemeldeten Arbeitslosen 15.652 betrug, wovon nur 10.726 Arbeitslose im Bezug einer Unterstützung standen. Demnach haben von den bei den Arbeitsämtern gemeldeten Arbeitslosen rund 5.000, d. i. annähernd 1/3 der [...] keine wie immer geartete Unterstützung. Dazu kommen noch jene Arbeitslosen, die sich wegen Aussichtslosigkeit einer Unterstützungsmöglichkeit überhaupt nicht melden. Zu dieser Zahl Ausgesteuerter sollen ab 30. April 1936 noch ungefähr 1.000 weitere arbeitslose Familienerhalter ausgesteuert werden.“[993]
In derselben Denkschrift findet sich eine statistische Übersicht, die den Grad des Rückganges der industriellen Beschäftigung durch die Wirtschaftskrise im Land Salzburg aufzeigt:
Tabelle 3. Tabelle 2: Vergleich der Beschäftigten in ausgewählten Betrieben des Landes Salzburg 1925 und 1935[a]
Industriezweig (Unternehmen): | Beschäftigte Arbeiter Frühjahr 1924 | Beschäftigte Arbeiter Frühjahr 1935 |
Bauindustrie (Ziegelei Warwitz, Gnigl) | 80 | 4 |
Bauindustrie (Ziegelei Waha, Bürmoos) | 122 | 14 |
Bauindustrie (Schornbrandtner, Salzburg) | 155 | 2 |
Bauindustrie (Marmorwerke Mayr-Melnhof, Parsch) | 33 | 0 |
Bauindustrie (Marmorwerke Kiefer AG., Oberalm) | 84 | 21 |
Bauindustrie (Schotterwerk Tagger, Golling) | 103 | 59 |
Bergbau (Mitterberger Kupfer AG., Mühlbach) | 743 | 0 |
Bergbau (Mitterberger Kupfer Ag., Mitterberghütten) | 357 | 16 |
Bergbau (Talkum-Bergbau) | 47 | 24 |
Bergbau (Goldbergbau Rathausberg) | 120 | 4 |
Chemische, Papier- u. Glasindustrie (Handler u. Pfifferling, Sam) | 80 | 34 |
Chemische, Papier- u. Glasindustrie (Glasfabrik Glaser, Bürmoos) | 102 | 0 |
Chemische, Papier- u. Glasindustrie (Cellulosefabrik, Hallein) | 690 | 501 |
Chemische, Papier- u. Glasindustrie (Zementfabrik Leube, Gartenau) | 401 | 33 |
Chemische, Papier- u. Glasindustrie (Pappenfabrik Funke, Raminstein) | 230 | 23 |
Lebensmittelindustrie (Stieglbrauerei Salzburg) | 240 | 135 |
Lebensmittelindustrie (Brauerei Kaltenhausen) | 170 | 122 |
Sägeindustrie (Preimesberger & Co., Salzburg) | 80 | 9 |
Sägeindustrie (Holz AG., Hallein) | 46 | 0 |
Sägeindustrie (Habersatter Radstadt) | 40 | 31 |
Sägeindustrie (Sägewerk Thür, Bischofshofen) | 63 | 0 |
Metall- u. Elektroindustrie (Anker-Werke, Grödig) | 457 | 19 |
Metall- u. Elektroindustrie (Aluminium AG., Lend) | 553 | 153 |
Textil- u. Bekleidungsindustrie (Solderer & Schrey, Hallein) | 222 | 60 |
Holz verarbeitendes Gewerbe (20 Tischlermeister in der Stadt Salzburg) | 129 | 16 |
Hotel-, Gast- u. Schankgewerbe (18 Hotels in Badgastein) | 1.030 | 480 |
[a] Vgl. Kammer für Arbeiter und Angestellte-Landeskartell Salzburg: Vorschläge zur Schaffung von Erleichterungen in der derzeitigen Arbeitslosenversicherungsgesetzgebung, Salzburg im März 1936; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1936/0661. |
Diese Diskrepanz zwischen Regierungspropaganda[994] und Realität war auch den Funktionären des Ständestaates bewusst und wurde als bedrohlich empfunden. An sozialen Brennpunkten des Landes wie der Industriestadt Hallein schlug die Bezirksführung der „Vaterländischen Front“ Alarm. In einem Schreiben an die Landesführung wurde ein Bericht über die wirtschaftliche und politische Lage in der Stadt gegeben und festgehalten, dass trotz der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Regierung „[...] sich die wirtschaftliche Lage in Hallein und Umgebung sehr verschlechtert hat [...] in den Jahren 1935 und 1936 nahm die Arbeitslosigkeit ständig zu. Diese Tendenz ist noch im verstärktem Masse auch 1937 festzustellen. [...] Dabei muß erwähnt werden, dass es in unserer Stadt eine nicht geringe Anzahl junger Menschen gibt, die überhaupt noch nie gearbeitet haben. Auch ist eine steigende Tendenz festzustellen. [...] Vor einigen Tagen versammelten sich vor dem Rathaus in Hallein ungefähr 150 Arbeitslose, die den Bürgermeister baten in seinen Bemühungen um Arbeitsbeschaffung auszuharren. [...] Für die Zukunft und deren Entwicklung in der Stadt Hallein können wir falls keine Arbeitsmöglichkeiten geschaffen werden, keine Verantwortung übernehmen.“[995]
Nicht nur Funktionären war diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit bewusst. Man musste keinen Zugang zu statistischen Informationen haben, die Alltagsansicht genügte, und manch einer sprach es sogar aus, wie der Obmann der Ortsgruppe Altenmarkt des „Österreichischen Gewerbebundes“:
„[...] es ist falsch zu glauben das [sic!] die das rotweisse Bändchen [Anm.: Ansteckabzeichen der ‚Vaterländischen Front‘] tragen alles gute Österreicher sind, es ist falsch von der Regierung zu behaupten in der Presse und so weiter die Wirtschaftslage hat sich stark gebessert, das Steuereingänge dies beweisen, wenn andererseits wie schon erwähnt die gerichtlichen Anschläge [Anm.: Versteigerungsedikte] das Gegentheil bezeugen [...] 20 bis 30 Bettler besuchen uns täglich, ebenfalls eine schwere Belastung für eine große Familie.“[996]
Und ein Gärtner aus der Stadt Salzburg zog 1936 das Resümee:
„Am 20. August d.J. waren es 6 Jahre, seit ich arbeitslos geworden bin. Regierungen haben seither gewechselt, verantwortliche Männer einer den anderen abgelöst, ein schönes Geld eingesteckt, Millionäre und Vertreter von Milliarden Vermögen [Anm.: die bedeutenden Festspielgäste jener Zeit] waren seither in Salzburg, lebten in Saus und Braus, während unsereiner mit knurrendem Magen das Pflaster getreten.“[997]
Die Armut der Zwischenkriegszeit war generationsprägend. Der politische Diskurs der Nachkriegszeit war noch vielfach durch diese Erfahrungen überschattet und lieferte Legitimation für den Ausbau des Sozialstaates. Ein „nie wieder“ war lagerübergreifender Konsens.
Was charakterisiert nun diese anhaltende Besonderheit in der Wahrnehmung der Krisenzeit der 1920er- und 1930er-Jahre? Der Zwischenkriegszeit haftet in der historischen Erinnerung ein negativer Beigeschmack an, gleichsam der Kontrast zur „belle époque“ der untergegangenen Monarchie. So sehr das Bild einer glänzenden Jahrhundertwendekultur auch geschönt ist und die sozialen Schattenseiten dieser Zeit gerne ausgeblendet werden, so richtig ist – bei aller notwendigen Relativierung nach sozialer und räumlicher Situation – die Einschätzung der Ersten Republik als einer der permanenten sozialen Krise. Die sozialen und wirtschaftlichen Erschütterungen des Ersten Weltkrieges, der Nachkriegsbedingungen mit Hungersnot, Massenumsiedelungen und Inflation, die Anpassungsschwierigkeiten einer auf einen Kleinstaat reduzierten Ökonomie, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise seit Ende der 1920er-Jahre und die politische Unfähigkeit zu einer angemessenen Wirtschaftspolitik – all das prägte die Lebenserfahrung einer ganzen Generation. Der versuchte Rückbau des eben erst begonnen Sozialstaates in eine Almosengesellschaft, in der soziale Rechte durch unverbindliche individuelle Spendenbereitschaft ersetzt wurden, war die falsche Antwort und unterminierte das Fundament der Gesellschaft.
Quellen und verwendete Literatur:
[Bachinger/Matis 1986] Bachinger, Karl; Herbert Matis: Die österreichische Nachkriegsinflation 1918–1922. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde. 3/1986, S. 83–90.
[Carsten 1988] Carsten, Francis: Die Erste Österreichische Republik im Spiegel zeitgenössischer Quellen. (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek, Bd. 8). Wien–Köln–Graz 1988.
[FischerW 1982] Fischer, Wolfram: Armut in der Geschichte. Göttingen 1982.
[Hanisch 1988] Hanisch, Ernst: Die Erste Republik. In: Dopsch, Heinz; Hans Spatzenegger (Hg.): Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Band II: Neuzeit und Zeitgeschichte. Teil 2. Salzburg 1988, S. 1057–1120.
[HuberW 1975] Huber, Wolfgang (Hg.): Franz Rehrl. Landeshauptmann von Salzburg 1922–1938. Salzburg 1975.
[Jahoda/Lazersfeld/Zeisel 1975] Jahoda, Marie; Paul Lazarsfeld; Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt/M. 1975 (zuerst erschienen 1933).
[Kernbauer/März/Weber 1983] Kernbauer, Hans; Eduard März; Fritz Weber: Die wirtschaftliche Entwicklung. In: Weinzierl, Erika; Kurt Skalnik (Hg.): Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik., Band 1. Graz–Wien–Köln 1983, S. 343–380.
[Pawlowsky 2000] Pawlowsky, Verena: Arbeitslosenpolitik im Österreich der dreißiger Jahre. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 1/2000, S. 24–32.
[Stiefel 2000] Stiefel, Dieter: Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt im Österreich der Zwischenkriegszeit. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 1/2000, S. 17–23.
[Talos/Neugebauer 1985] Talos, Emmerich; Wolfgang Neugebauer (Hg.): „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938. (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, Bd. 18). 3. erw. Aufl. Wien 1985.
[945] [Hobsbawm 1995b].
[946] Sehr aufschlussreich für viele Aspekte der Zwischenkriegszeit ist die seit 1983 im Böhlau-Verlag herausgegebene Buchreihe von Lebenserinnerungen „Damit es nicht verloren geht“, mit bisher 52 Bänden.
[947] Franz Rehrl, geboren in Salzburg am 4. Dezember 1890 und verstorben am 23. Jänner 1947, war christlich-sozialer Politiker und von 1922–1938 Landeshauptmann von Salzburg. Rehrl unterstützte den autoritären Kurs des Ständestaates nicht voll. Unter Hitler wurde er 1938 verfolgt und inhaftiert. Rehrl machte sich um die Salzburger Festspiele verdient. Wirtschaftspolitisch versuchte er vor allem durch große Infrastrukturprojekte (u. a.: Bau der Gaisbergstraße, Großglockner-Hochalpenstraße, Schmittenhöhebahn sowie das geplante Tauernkraftwerk) die Konjunktur zu beleben und die Arbeitslosigkeit zu mildern.
[948] Vgl. [Kernbauer/März/Weber 1983], hier bes. S. 345.
[949] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 17. Dezember 1926; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1926/1006.
[950] Schreiben von Landeshauptmann Franz Rehrl vom 20. Dezember 1926; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1926/1006.
[951] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 22. Mai 1922; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1922/0129.
[952] Schreiben von Landeshauptmann Franz Rehrl vom 26. Mai 1922; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1922/0129.
[953] Abschrift eines Schreibens des Verbandes der Fürsorgerinnen Salzburgs an die Landesregierung, ohne Datum; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1922/0230.
[954] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl (ohne Datum); SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1923/1079.
[955] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl (ohne Datum); SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1923/1079.
[956] Bericht der Bezirkshauptmannschaft Hallein, ohne Datum (ca. Mai 1923); SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1923/0269.
[957] Schreiben der „Tiroler Landsmannschaft“, Innsbruck, an Bundesrat Franz Rehrl vom 10. Dezember 1924; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1924/1127.
[958] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 23. Dezember 1926; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1926/1040.
[959] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 1. August 1929; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1929/1551.
[960] Die allgemeine Wirtschaftskrise erfasste weltweit die wichtigsten Wirtschaftsmächte. Nach dem New Yorker Börsenkrach, am 25. Oktober 1929 (Schwarzer Freitag), weitete sie sich global aus und erreichte 1932 ihren Tiefpunkt. Die Weltwirtschaftskrise war mit einer Schrumpfung der Volkseinkommen verbunden, der Industrieproduktion, der Außenhandelsumsätze und vor allem mit extrem hoher Arbeitslosigkeit. In Deutschland führte sie aufgrund hoher kurzfristiger Auslandsschulden zudem zu Zahlungsunfähigkeit und zur Bankenkrise (1931). Die Weltwirtschaftskrise bewirkte eine weit gehende Auflösung der Weltwirtschaft, verstärkte Autarkiebestrebungen und bereitete mit ihren sozialen Auswirkungen den Boden für das Erstarken radikaler Massenbewegungen (z. B. des Nationalsozialismus).
[962] [Jahoda/Lazersfeld/Zeisel 1975], S. 38.
[963] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 5. August 1929; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1929/1415.
[964] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 30. Dezember 1929; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1930/0012.
[965] Schreiben vom 19. Oktober 1930; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1930/1952.
[966] Schreiben des Gemeindesekretärs von Oberndorf an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 4. September 1930; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1930/1621.
[967] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 11. Juni 1932; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1932/1513.
[968] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl, vom 15. November 1930; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1930/2138.
[969] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 21. Mai 1932; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1932/1467.
[970] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl, vom 7. Dezember 1930; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1930/2228.
[971] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 12. Juni 1932; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1932/1475.
[972] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl (ohne Datum); SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1931/1543.
[973] Schreiben von Landeshauptmann Franz Rehrl vom 19. August 1931; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1931
[974] Amtsvermerk des Präsidialbüros vom 21. Jänner 1932; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1932/0289.
[975] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 14. Jänner 1933; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1933/0436.
[976] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 1 April 1932; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1932/0999.
[977] „Helft den Arbeitslosen“. Aufruf der Zentralkommission der christlichen Gewerkschaften Österreichs und des Zentralverbandes christlicher Angestellter; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1931/0568.
[978] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 8. Oktober 1933; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1933/2288.
[979] Vgl. Auftrag des Präsidialbüros an die Polizeidirektion Salzburg vom 15. Apil 1931; SLA, RehrlBr-1931/1767.
[980] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 25. November 1933; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1933/2803.
[981] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 21. September 1933; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1934/0242.
[982] Zu den Ernährungsgewohnheiten von Langzeitarbeitslosen siehe das Kapitel „Speisezettel und Budget“ in: [Jahoda/Lazersfeld/Zeisel 1975], S. 44–52.
[983] bschrift eines Schreibens an die Redaktionen der „Salzburger Chronik“ und des „Salzburger Volksblatt“, am 29. September 1932, dem Präsidialbüro persönlich vom Verfasser zur Kenntnis gebracht; SLA (Salzburger Landesarchiv), Rehrlbr-1932/2214.
[984] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 20. Februar 1934; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1934/0594.
[985] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 2. Juni 1933; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1933/1343.
[986] Vgl. Fischer, Wolfram: Armut in der Geschichte. Göttingen 1982, S. 105.
[987] Vgl. [Pawlowsky 2000], hier S. 31.
[988] „Denkschrift über die Notlage der Salzburger Bauernschaft“ vom 15. Januar 1935; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1935/0167.
[989] Unter Heimwehren (Heimatwehren, Heimatschutz) werden paramilitärische österreichische Selbstschutzverbände, entstanden nach dem Ersten Weltkrieg in den Nationalitätenkämpfen, vor allem in Kärnten 1919, verstanden. Nach den Unruhen 1927 („Julirevolte“) entwickelten sich die Heimwehren zu einer politischen Kampfbewegung. Am Vorbild des italienischen Faschismus ausgerichtet, traten sie im Programm von Korneuburg (1930) für eine diktatorische, am Führerprinzip ausgerichtete Staatsführung und einen ständischen Gesellschaftsaufbau („Austrofaschismus“) ein. Unter ihrem Bundesführer Fürst Ernst Rüdiger Starhemberg unterstützten sie 1933/34 Bundeskanzler Engelbert Dollfuß bei der Errichtung eines autoritären Regierungssystems. 1936 gingen die Heimwehren in der Vaterländischen Front als „Frontmiliz“ auf.
[990] Die Vaterländische Front ist eine 1933 von Engelbert Dollfuß gegründete politische Sammlungsbewegung, die die Selbstständigkeit Österreichs, einen autoritär-ständestaatlichen Gesellschaftsaufbau und die Überwindung des Parteienstaates verfocht. Sie war nach dem Führerprinzip organisiert und nach der Verfassung von 1934 die allein zugelassene Trägerin der politischen Willensbildung. 1938 wurde sie aufgelöst.
[991] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 2. Mai 1934; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1935/0421.
[992] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 28. Jänner 1935; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1935/3223.
[993] Kammer für Arbeiter und Angestellte-Landeskartell Salzburg: Vorschläge zur Schaffung von Erleichterungen in der derzeitigen Arbeitslosenversicherungsgesetzgebung, Salzburg im März 1936; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1936/0661.
[994] Ein Beispiel für die Versuche eine offiziösen Sicht der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu verbreiten, findet sich beispielhaft in der Zeitschrift „Wirtschaftliche Nachrichten: Sonderfolge Bundesland Salzburg“ der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie vom September 1936.
[995] Bericht der Bezirksführung Hallein der „Vaterländischen Front“ über die wirtschaftliche und politische Lage der Stadt Hallein vom 4. April 1937; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1937/1300.
[996] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 7. Juli 1936; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1937/4308.
[997] Schreiben an Landeshauptmann Franz Rehrl vom 3. Oktober 1936; SLA (Salzburger Landesarchiv), RehrlBr-1936/3229.